Der Zwölfton-Utopist

Ein digitales Lexikon zu Josef Matthias Hauer

Cover HauerJosef Matthias  Hauer (1883-1959), der Erfinder dessen, was er selbst „Zwölftonmusik“ nannte und was ein umfassendes System für das Komponieren mit den zwölf Tönen des Quintenzirkels darstellt, stand zeitlebens im Schatten des andern Systematikers Schönberg, der seine Methode als „Komposition mit zwölf Tönen“ bezeichnete. Die Feinheiten der Formulierung verweisen auf das Konkurrenzverhältnis der beiden Wiener.

Ihr beiderseitiges Bemühen um klare Abgrenzung erinnert an die heutigen Rechtsstreitigkeiten um Firmenlogos und Werbemottos. Während Schönberg dank wortgewaltiger Apologeten wie Adorno, aber sicher auch auf Grund seines Festhaltens an den Traditionen des 19. Jahrhunderts die Musikgeschichte fortzuschreiben vermochte, kamen Hauers Ansätze über eine Nischenexistenz nicht hinaus. Da half ihm auch sein lebenslanges Pochen auf die Priorität seiner Erfindung nichts. Und selbst wenn er sie hätte patentieren lassen: In der Kunst gelten andere Regeln als in der Wirtschaft.

Dabei hat Hauers Vorstoß in kompositorisches Neuland alle Merkmale des radikal Neuen. Er setzt zwar bei der Neuordnung der zwölf temperierten Töne an, geht aber weit darüber hinaus und besitzt Züge eines spekulativen Weltenentwurfs. „Die Zwölftonmusik (und alles rein Wissenschaftliche, das mit ihr innigst verwoben ist) beinhaltet nicht mehr und nicht weniger als die geistige Neugestaltung der ganzen Welt“, schrieb Hauer 1933 in einem Brief an einen befreundeten Komponisten. „Nun wird man in Zukunft von Zwölftonkultur sprechen müssen und diese wird sich über alle Gebiete des menschlichen Lebens erstrecken.“

In  diesem mit Emphase vorgetragenen universalistischen Anspruch liegt freilich auch die Problematik der Hauerschen Weltanschauung. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als das europäische Weltbild in sich zusammenstürzte und Wissenschaften und Künste sich in zahllose Subsysteme auseinanderdividierten, musste Hauers Versuch, auf der Basis objektiver Gesetze noch einmal eine Einheit von Kunst, Wissenschaft und Leben zu rekonstruieren, als Hirngespinst eines Phantasten erscheinen.

Die Geschichte dieses Versuchs, die Welt aus den mathematisch-harmonischen Gesetzen der Musik noch einmal neu zu erschaffen, ist die Geschichte des Scheitern einer großen Utopie. Auf einer vom österreichischen Verlag Lafite produzierten DVD-ROM kann man sie nun im Detail studieren. Die Herausgeber Joachim Diederichs, Nikolaus Fheodoroff und Johannes Schwieger haben eine riesige Fülle von Material zusammengetragen und daraus eine überaus beeindruckende Dokumentation erstellt. Sie umfasst die theoretischen Schriften, Briefe und Manifeste Hauers, die Tafeln mit den „Tropen“, wie er seine melodischen Grundreihen nannte, und eine ausführliche Biografie. Verzeichnisse der Werke, der Veröffentlichungen und Tonträgeraufnahmen nebst einem Personen- und Sachregister runden die Dokumentation ab.

Die Darstellungsmöglichkeiten des Mediums DVD werden optimal genutzt: Manche Dokumente können mit einem Klick auch als Faksimile des Manuskripts oder der Erstausgabe aufgerufen werden, auch Tonbeispiele werden angeboten. Alle Dokumente können ausgedruckt werden. Die Materialdichte macht es allerdings nicht ganz leicht, beim Navigieren den Überblick zu behalten. Aufgelockert wird die Textsammlung durch zahlreiche Fotos, Zeichnungen und Tabellen. Das alles macht aus dieser DVD-ROM ein digitales Hauer-Lexikon. Wer sich mit dem Komponisten beschäftigen will, wird um diese hochkarätige Quelle künftig nicht mehr herumkommen.

© Max Nyffeler 2008

DVD: Josef Matthias Hauer: Schriften, Manifeste, Dokumente / DVD-ROM / Voraussetzungen: Acrobat Reader 6 und größer, PC ab Windows XP, Mac OS-X / Verlag Lafite Wien, www.musikzeit.at

(März/2008)

DVD-Rezensionen: Liste

 

Home