Claudio Abbado als Mahler-Dirigent

Die DVD-Edition der Sinfonien mit dem Lucerne Festival Orchestra setzt Maßstäbe

Mahler 7Mahler 9Beim Hören dieser Aufnahmen wird einem wieder einmal bewusst, dass Musik nicht nur aus Tönen besteht, sondern auch aus ihrem Gegenteil, der Stille. Was in der fernöstlichen Praxis eine Grundbedingung des Musizierens darstellt, äußert sich in der europäischen Klassik nicht zuletzt in den Momenten der Stille vor und nach der Aufführung, die wie ein Bilderrahmen die ästhetische von der umgebenden Alltagswirklichkeit abgrenzen. Das wird meist als gedankenloses Ritual absolviert, doch bei der aufwühlenden Interpretation von Gustav Mahlers Neunter unter Claudio Abbado wird es zum Ereignis: Nach dem Verklingen des letzten Tons verharrt das ganze Orchester fast zweieinhalb Minuten in regungsloser Stille, das Publikum hält gebannt den Atem an. Der Film hält diesen einzigartigen Moment fest. Während die Zeit stillzustehen scheint, bleibt die Kamera unverrückt auf das Gesicht des Dirigenten gerichtet. Sie beobachtet, wie das Vergangene in seiner inneren Vorstellung nachklingt, wie er ganz langsam zurück auf den Boden der Realität findet und schließlich mit einer kleinen Körpergeste den erlösenden Applaus provoziert.

Ein Kamerablick, der derart ungeniert in das Innere einer Persönlichkeit eindringt, kann voyeuristisch wirken. Doch das ist hier nicht der Fall. Abbado, im Vertrauen auf den erlebten Augenblick, hatte den Mut, diese Bilder freizugeben, und so wird der Betrachter Zeuge von etwas Außergewöhnlichem – der geistigen Präsenz von Musik, ohne dass ein Ton erklingt. Und wieder einmal zeigen sich die unbestreitbaren Qualitäten einer Filmdokumentation: Sie kann eine Live-Situation so realitätsnah abbilden, dass die Dramatik des flüchtigen Augenblicks ins Medium hinübergerettet wird und der schauende Zuhörer einen kurzen Moment lang das Geheimnis des schöpferischen Vorgangs miterleben kann, als wäre es hier und jetzt.

Die Szene ist ein Glücksmoment in der an Überraschungen reichen Serie der Tonbildaufnahmen mit Mahlers Sinfonien, die Claudio Abbado und das Lucerne Festival Orchestra seit acht Jahren herausbringen. Der Zyklus ist beinahe vollständig, es fehlen nur noch die groß besetzte Achte und die fragmentarische Zehnte. Alle Aufnahmen, auch die älteren, liegen nun im neuen, hochauflösenden Format als Blu-ray Disc vor. Produzent ist Paul Smaczny, der früher für EuroArts arbeitete und jetzt mit der Neunten die erste Aufnahme beim eigenen, neu gegründeten Label Accentus veröffentlicht hat. Der in Surround oder Stereo abspielbare Ton ist von ausgezeichneter Qualität, was zweifellos auch der Luzerner Saalakustik zu verdanken ist, und mit Michael Beyer ist ein Videoregisseur am Werk, der das bei Konzertaufzeichnungen unvermeidliche und oft schematisch wirkende Hüpfen von einem aktiven Instrument zum anderen zwanglos und unauffällig betreibt.

Mahler-Zyklen auf Ton- und Bildtonträgern sind heute keine Seltenheit, doch was die noch nicht ganz vollendete Luzerner Produktion schon jetzt so ungewöhnlich erscheinen lässt, ist die Aura des gegenseitiges Vertrauens, der Freude am Musizieren und der hellwachen Aufmerksamkeit aller Beteiligter; sie ist in Ton und Bild deutlich präsent. Die einmalige Konstellation eines Orchesters, das zu einem großen Teil aus Solisten und Kammermusikern besteht und unter Abbados Leitung zu einem verschworenen Kollektiv zusammengewachsen ist, zeigt sich nicht nur in der unangestrengten Präzision des Zusammenspiels und der wachen Kommunikation mit dem Dirigenten, sondern auch im sozialen Verhalten nach dem Konzert. Wo sonst pflegen die Orchestermitglieder einen so herzlichen Umgang miteinander, dass sie sich zum Abschied aus Freude über das Gelungene auf offener Bühne gegenseitig umarmen?

Abbados Dirigierstil unter der Lupe

Selbstverständlich rückt die Bildregie Abbado gebührend ins Blickfeld; in der neunten Sinfonie kann man sogar wählen zwischen der Standardeinstellung mit wechselnden Perspektiven und einer reinen Dirigentenkamera – eine hervorragende Gelegenheit, Abbados Dirigierstil aus der Nähe zu studieren. Die Schlaghand ist enorm beweglich und ausdrucksvoll, auch wo er wie in der Neunten mit Stock dirigiert, doch die wesentlichen Gestaltungsakzente gehen von der Linken aus. Der Grundcharakter seiner Bewegungen ist nicht das Schlagen, sondern das sorgfältige Modellieren des musikalischen Energieflusses. Sein Gesichtsausdruck signalisiert eine hochgradige Offenheit der Wahrnehmung, oft hört er dem Orchester mehr zu als dass er es antreibt. Das auswendige Dirigieren ermöglicht ihm unbeschränkten Augenkontakt mit den Musikern, noch den kleinste Einsatz, jedes hervortretende Detail kommuniziert er mit suggestivem Blick. Selbst beim dritten Klavierkonzert von Prokofieff mit Yuja Wang als katzenhaft geschmeidiger Solistin, das mit Mahlers Erster gekoppelt ist, verzichtet er auf die Partitur. Aus dem ganzen Habitus spricht eine phänomenale Beherrschung der Materie.

Ein schlanker, transparenter Klang, der trotz hoher farblicher Trennschärfe nie in seine Einzelteile zerfällt und auch im vollen Fortissimo nicht hart wirkt, zeichnet die Aufnahmen aus. Abbado scheut die Zuspitzung nicht. In der neunten Sinfonie lässt er die Signale der gedämpften Posaunen und Hörner schneidend hervortreten, die Kombination von Harfe und Glocken sorgt für gruftigen Schauer. In der Vierten kontrastiert der aggressive Klang von Schellen und Piccolo kraftvoll mit der genussvollen Schilderung der himmlischen Freuden durch Magdalena Kozena. Die komplexen Polyphonien in der Rondo-Burleske der Neunten und im monströsen Kopfsatz der Siebten klingen kantig, aber nie schrill. Am andern Ende des Ausdrucksspektrums finden sich die erlesenen Farben des in den Streichern reduzierten Orchesters der Rückert-Lieder oder die zauberhafte Heiterkeit des Bläserkonzert zu Beginn der ersten Nachmusik in der Siebten.

Überhaupt die Bläser: Abbado lässt ihnen viel Raum zur individuellen Entfaltung, doch bringt er ihren eigenen Zeitverlauf mit dem des ganzen Orchesters immer wieder auf wundersame Weise zur Übereinstimmung. Aus diesem belebten, vom Hören geleiteten Zusammenspiel entstehen auf zwingende Weise die Großen Bögen von Mahlers Musik, sei es beim langsamen Aufbau des Kopfsatzes der Ersten, sei es in der brüchigen Monumentalarchitektur der Neunten. Die wie im Gehen erschlossenen weiten Streicherlandschaften der vierten Sinfonie liefern dafür das Modell – die Musik entwickelt sich aus sich selbst und entsteht in jedem Moment neu.

© Max Nyffeler, August 2011

Vom Mahler-Zyklus des Lucerne Festival Orchestra unter Claudio Abbado sind zuletzt folgende Blu-ray Discs erschienen:
Sinfonie Nr. 1 in D-Dur / Klavierkonzert Nr. 3 von Sergej Prokofieff (Yuja Wang, Klavier). EuroArts 2057968 (1 BD)
Sinfonie Nr. 4 in G-Dur / Rückert-Lieder (Magdalena Kozená, Mezzosopran). EuroArts 2057984 (1 BD)
Sinfonie Nr. 9 in D-Dur. Accentus ACC 10214 (1 BD)
Sinfonie Nr. 7 in e-Moll (Wiederveröffentlichung als Blu-ray). EuroArts 2054624 (1 BD)

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