Über das Erfinden der Musik im Augenblick

Der Dirigent Peter Hirsch im Gespräch mit Max Nyffeler

Sie haben "Prometeo" von Luigi Nono erstmals 1985 in Mailand dirigiert, bei der Uraufführung der Neufassung, die seither die gültige ist. Welches sind Ihre Erinnerungen daran?

Das war meine erste Begegnung mit Nono und seiner Musik – eine kleine Urerfahrung. Für mich war das absolutes Neuland. Ich hatte bis dahin nur wenige Dinge gemacht in der neuen Musik, überhaupt kam ich aus einem andern Umfeld. Der Kontakt kam über die Frankfurter Oper zustande, wo ich damals Kapellmeister war. Nono kam nach Frankfurt und hörte sich eine Lulu-Vorstellung an, die ich dirigierte. So begann das.

Arbeiteten Sie in Mailand auch mit Claudio Abbado zusammen, der ein Jahr zuvor die Uraufführung in Venedig geleitet hatte?

Ja. Er sollte Prometeo auch hier dirigieren, und ich war als sein Assistent engagiert worden. Wir haben uns ausgezeichnet verstanden. Nachdem ich einen Monat lang das Stück erarbeitet hatte, teilten wir uns schließlich in die Aufführungen: Er machte drei und ich drei. Der zweite Dirigent war beide Male Roberto Cecconi, ein wunderbarer Musiker.

Inwiefern war "Prometeo" für Sie eine Urerfahrung?

Wir waren wie eine große Familie bei der Arbeit da draußen in der Fabrikhalle, wo diese Scala-Produktion stattfand, und Nono selbst war in Hochform. Neu für mich war vor allem Nonos Klangwelt. Da gab es diese Mikrotöne, dann die Auffächerung des Klangs bis in die feinsten Verästelungen und die Differenzierung der Lautstärke nach unten: Leise, leiser, kaum noch hörbar. So etwas hatte ich beim Klavierspiel bei Schubert immer angestrebt, so dass mir die Lehrer manchmal sagten: "Sie spielen wieder symbolisch, man hört es in der fünften Reihe nicht." Dieses Argument habe ich nie recht verstanden. Auch in der Oper finde ich es schrecklich, wenn das Orchester sagt: "Wir sitzen hier im Graben und müssen deshalb ein bisschen mehr geben, damit es oben ankommt." So dachte ich als Anfänger am Theater auch. Aber nach dieser einmonatigen Prometeo-Erfahrung in Mailand begann ich auch im Opernalltag anders zu hören und zu arbeiten.

Wie schlug sich das nieder?

Ich mochte meine eigenen Produktionen nicht mehr, wenn sie dynamisch nicht weit genug gingen – in beide Richtungen. Als Nächstes dirigierte ich dann einen ausgetüftelten, in den leisen Registern fein abgestuften und von Pausen durchsetzten Figaro. Diese Aufführung, übrigens die erste Operninszenierung von Jürgen Gosch, machte damals in Frankfurt ziemlich Furore. Am Theater besteht ja auch so eine Tendenz zum pauschalen Mezzoforte. Durch die Erfahrungen mit Prometeo wurde mir klar: Es gibt ein Espressivo an der Hörschwelle. Das hat nichts mit Säuseln zu tun, sondern mit großer Variabilität von Klang und Ausdruck auch in den leisesten Registern. Das gilt ja auch für andere Musik, etwa für Webern oder die "ersterbenden" Schlüsse bei Mahler.

Was bedeutet es für Sie, wenn Sie jetzt in Freiburg den "Prometeo" wieder dirigieren?

Das ist ein merkwürdig ambivalenter Vorgang. Wenn ich das Stück lese und innerlich höre, dann ist das inzwischen wie eine Art klangliche Heimat für mich, obwohl ich es nun achtzehn Jahre nicht mehr dirigiert habe. Es ist ganz vertraut und zugleich etwas Neues. Ich bin gespannt, wenn es wieder real erklingt, was das Stück mit mir tun wird und was ich mich ihm anstellen werde. Für mich befindet sich Prometeo noch immer auf einer "Schnittkante von Heutigkeit". Ich hoffe, dass man das in der Aufführung zu hören bekommt.

Wie verlief ihr Werdegang als Dirigent?

Das Metier habe ich an der Kölner Musikhochschule gelernt, bei Wolfgang von der Nahmer, der in den dreißiger Jahren noch Assistent von Fritz Busch gewesen war und über das Handwerkliche unglaublich gut Bescheid wusste. Es war im besten Sinn alter deutscher Kapellmeisterunterricht. Nach dem Studium bekam ich eine Stelle an der Frankfurter Oper, erst als Repetitor, dann als Assistent bei Michael Gielen. Bei ihm lernte ich, wie wichtig es ist, eine Partitur genau zu analysieren: dass man erst präzis liest, was dasteht, bevor man sie zu interpretieren beginnt. In Frankfurt entwickelte ich überhaupt erst ein Verhältnis zum Theater. Bis dahin hatte es für mich nur Kammermusik und Sinfonik gegeben.

Was waren die auslösenden Erfahrungen?

Das waren bestimmte Aufführungen, bei denen ich dachte: Na, wenn das so brodelt... Oder anders gesagt: Einer Figur auf der Bühne muss ich glauben können und nicht denken: "Warum singt der bloß? Warum spricht er nicht einfach oder hält den Mund?" Jenufa zum Beispiel war so eine Erfahrung. Später habe ich sie auch dirigiert. Dann habe ich in Frankfurt an Einstudierungen wie Doktor Faustus oder der skandalumwitterten Aida von Neuenfels mitgearbeitet. Das hat mein Interesse an der Oper schlagartig gesteigert, auch meine Ansprüche an das Fach, so dass ich heute denke: Darunter möchte ich es nicht mehr machen. Später verband sich das dann auch mit der Frage: Hat das, was ich dirigiere, etwas mit dem zu tun, was sich oben auf der Bühne abspielt, oder läuft das nur so nebeneinander her? Zumeist passt das, wenn überhaupt, ja nur zufällig zusammen. Der springende Punkt ist: Man darf nicht einfach nur abliefern, was man einstudiert hat. Das Wesentliche am Theater ist doch das Moment der Erfindung im Augenblick und das Reagieren auf die andern. Das gilt auch fürs Orchester – und nicht nur in der Oper, wenngleich dieses hörende Reagieren, das "Komponieren" des Stücks beim Spielen im Kollektiv, natürlich ungleich komplizierter ist.

Also die Szene als Inspirationsquelle für die musikalische Interpretation?

Ja, und umgekehrt. Es wird dann aufregend, wenn sich beide Seiten gegenseitig inspirieren. Wenn eine Transparenz zwischen den verschiedenen Medien entsteht. Oft gibt es einen unsichtbaren eisernen Vorhang zwischen Bühne und Orchestergraben.

Möchten Sie nicht weder einsteigen in den Theaterbetrieb?

Wenn ich etwas angeboten bekomme, das meinen Vorstellungen entspricht, dann sofort. Aber solche Bedingungen sind selten. Und wenn nicht, dann lieber nicht – ich möchte nicht dazu beizutragen, die Defizite noch zu verstärken. Da kriege ich körperliche Aversionen. Bitte nein. Ich habe eine Zeitlang projektbezogen in andern Ländern gearbeitet, in Wales, Schottland oder Holland, und mit Regisseuren, mit denen ich mich gut verstehe: mit Gosch oder mit André Engel, der jetzt viel an der Bastille inszeniert. Das war für mich eine gute Alternative.

In Amsterdam haben Sie 1991 mit Tim Albery den "Benvenuto Cellini" von Berlioz gemacht und dabei eingehende Quellenstudien betrieben

Das ist ein großartiges Stück, eigentlich zwei Stücke in einem, und man fragt sich immer, welches ist nun die gültige Fassung? Wir haben neues Material ausgegraben, das vorher nie gespielt worden ist, mit fast absurden, hoch avantgardistischen Rezitativen, von denen Sie nie glauben würden, dass so etwas um 1840 geschrieben wurde. Die späteren Einrichtungen des Stücks haben immer damit zu tun, es theaterkompatibel zu machen. Wir hingegen hatten die Ambition zu zeigen, was man mit dem originalen Material anstellen kann.

Sie sind auch Konzert- und Schallplattendirigent. Gerade haben Sie das unvollständige Finale von Bruckners Neunter für die Schallplatte aufgenommen und dabei eine unalltägliche Lösung gewählt: Wo eine Passage fehlt, machen Sie ein Pause, die der vermuteten Länge des fehlenden Teils entspricht.

Ich finde es unerhört aufregend, wenn man an diesen Stellen die Musik in seinem inneren Ohr weiter imaginieren kann bis zum Moment, in dem der reale Klang wieder einsetzt.

Sie haben ihr Verfahren mit dem Restaurieren eines Freskos verglichen, bei dem die nicht erhaltenen Teile nicht ausgemalt, sondern als fehlende Teile sichtbar gemacht werden.

Für mich war das die einzige Möglichkeit, mit diesem Stück umzugehen. Es hängt mit Bruckners Arbeitsweise zusammen. Er hatte kein Skizzenbuch. Er richtete sich diese eigentümlichen Doppelbögen mit vier Takten pro Seite ein, die dann offenbar auf verschiedenen Stapeln in seiner Wohnung herumlagen. Wenn er an einer Stelle etwas änderte, schrieb er immer alle vier Seiten eines Bogens neu, nummerierte ihn in der alten Reihenfolge und legte ihn auf einen neuen Stapel. Nach seinem Tod wurden manche dieser Bögen von Andenkenjägern aus zerstörerischen Verehrung heraus entwendet und sind seither verschollen. Der Musikwissenschaftler John Phillips hat den Arbeitsprozess in den 90er Jahren in einer sehr sorgfältigen Arbeit rekonstruiert, so dass man nun versteht, wie das Ganze auszusehen hätte. Wo in der Endfassung Lücken sind, dokumentiert er, was von früheren Arbeitsschritten – in zum Teil ausgedünnter Instrumentation – erhalten ist. Einige Male fehlen aber auch diese Vorstufen. Deswegen kann man von Fragmenten in der Horizontalen und in der Vertikalen sprechen.

Wie sind Sie nun mit diesem Material umgegangen?

Ich habe mir das ganze Konvolut, das auf drei Wiener Bibliotheken verteilt ist, nochmals akribisch angeschaut. So konnte ich auch an einigen Stellen, wo die Dokumentation von Phillips mir noch Fragen offen ließ, eine vertretbare Lösung finden. Ich dirigiere wirklich nur das, was durch das Autograph verbürgt ist, und keinen Ton mehr. Und die Lücken lasse ich dann als "schwarze Löcher" in der Musik bestehen, um den Eindruck eines wenn auch durchbrochenen Ganzen nicht zu zerstören. Die rekonstruierten, nachkomponierten Fassungen des gesamten Finales kann man auf keinen Fall akzeptieren.

Ihre Version jetzt auf CD vorhanden. Wollen Sie sie auch im Konzertsaal dirigieren?

Unbedingt. Jetzt ist ja nur das Finale allein aufgenommen. Bei einer vollständigen Aufführung kommt es zu einem kleinen Schock, wenn nach dem Adagio, mit dem das Werk heute in der Regel endet, plötzlich dieser vierte Satz erklingt. Im Konzertsaal wirken die Leerstellen des Finales zweifellos noch viel suggestiver. Dazu kommt, dass neben diesen von außen verursachten Brüchen es auch Brüche in der Musik selbst gibt, die von Bruckner mit aller Schärfe auskomponiert sind.

Sie haben bei "Benvenuto Cellini" und für das Bruckner-Finale intensive Quellenstudien betrieben, ebenso bei Ihrer CD mit frühen Orchesterwerke von Bernd Alois Zimmermann, die im letzten Jahr in die Bestenliste des Preises der deutschen Schallplattenkritik kam. Ist Quellenforschung ein fester Bestandteil Ihrer Arbeitsweise?

Manchmal ist sie schon nötig. Bei Zimmermann gab es zum Beispiel ein paar Fragen, weil da mit der Märchensuite von 1950 auch eine genuine Uraufführung dabei war. Ein anderer Fall ist die Komposition Polifonica – Monodia – Ritmica von Luigi Nono aus dem Jahr 1951. Erst 1997 bei der Plattenaufnahme habe ich erfahren, dass es sich bei der Partitur um eine von Scherchen brutal zusammengestrichene Fassung handelt, bei der fast die Hälfte des Werks fehlt. So kannten wir das Stück fünfzig Jahre lang. Da habe ich darauf gedrungen, dass es neu ediert wird. Das ist jetzt ein völlig anderes Stück. Sicher wird auch die gekürzte Fassung weiter gespielt werden, Nono hat sie ja akzeptiert. Aber ich werde nur noch die Originalfassung dirigieren.

© Max Nyffeler 2003

Das Gespräch wurde am 17.1.2003 in Berlin geführt und in der Neuen Zeitschrift für Musik 2/2003 veröffentlicht.

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