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Oktober 2003

Ich

Nichts scheint so abgedroschen wie über das Ich zu reden. Die Medien, von den Trash-Sendungen des Fernsehens bis zur Boulevardpresse, sind voll von deklassierten Individuen, die in der Hoffnung auf ein bisschen Aufmerksamkeit ihr bedeutungsloses Ego exhibitionistisch ausbreiten, und auch viele Künstler und Schriftsteller sind versucht, ihr kleinbürgerliches Ich zum Maß aller Dinge zu machen. Der Einspruch dagegen gilt als politisch nicht korrekt und provoziert den Vorwurf der Intoleranz oder Rückständigkeit.

Dass all diese Versuche einer Selbstvergewisserung und Identitätsfindung nur die letzten Ausläufer einer jahrhundertelangen kulturellen Entwicklung sind, gerät angesichts der geschichtsvergessenen Medienwirklichkeit leicht aus dem Blickfeld. Im Zentrum dieser Entwicklung, die mit Beginn der Neuzeit einsetzte, stand das selbstverantwortliche, seine Menschenwürde erkämpfende Individuum. "Ich denke, also bin ich": Das war der Leitspruch des seine Autonomie einklagenden Subjekts, das sein Handeln allein auf eine einsichtige Vernunft gründete und sich zugleich von allen gesellschaftlichen, religiösen und moralischen Zwängen zu befreien versuchte. Aufklärung wurde das genannt.

Nach zwei Weltkriegen und angesichts der fortschreitenden Verwüstung des Planeten darf man das Projekt Aufklärung, verstanden als Befreiung des Ichs von vorgegebenen Zwängen, als gründlich misslungen bezeichnen. Das moderne Individuum hat seinen eigenen Forderungen nicht standgehalten und zelebriert sie, wo sie nicht in reine Destruktion umschlagen, nur noch als komisches Ritual. Was in den Medien und den Künsten heute noch als "Befreiung des Ichs" gefeiert wird, ist bestenfalls der triviale Epilog zu einem großen Menschheitstraum der Vergangenheit.

In Anbetracht der Problematik war das Symposium zum Thema "Ich", das nun im Rahmen des Lucerne Festival eine Reihe hochkarätiger Referentinnen und Referenten versammelte, fraglos aktuell. In den Beiträgen wurde der diffuse Ichbegriff, der heute durch die Köpfe geistert, radikal auseinander genommen. Wenn der Philosoph Wilhelm Schmid am selbstsicheren Reden vom Ich eine gewisse Unverschämtheit diagnostizierte, war das vielleicht etwas pointiert. Doch kaum widersprechen kann man seiner Feststellung, dass, was sich als "Ich" versteht, im Grunde genommen gar nicht existiert. Es ist bloß ein Schnittpunkt verschiedener Linien und kann sich als Ich nur in Bezug auf einen andern Schnittpunkt definieren.

Darin waren sich die Teilnehmer einig: Das Ich kann sich ohne Du nicht konstituieren. Es ist eine soziale Kategorie. Klar kam das auch in den Ausführungen der Londoner Autismus-Forscherin Beate Hermelin zum Ausdruck, obwohl sie in ihren jahrelangen Untersuchungen darauf stieß, dass es unter Autisten rätselhafte Fälle von Sonderbegabungen gibt, in denen so etwas wie ein – von der Umwelt völlig isoliertes – Ich existiert.

Auch der klangvolle Lehrsatz von Adorno, "Die Welt im Ich gestalten ist der Sinn des Lebens", erscheint in diesem Licht nur als schlappe Teilwahrheit, da er den intersubjektiven Aspekt ausklammert. Darauf wies Ralf Dahrendorf hin, der als Gelehrter klassischen Zuschnitts nicht nur der Wechselwirkung zwischen Ich und Du, sondern auch zwischen Ich und Welt überhaupt entscheidendes Gewicht beimisst. Anknüpfend an den Gedanken Goethes, vorwärts schreitende Epochen seien objektiv, retrospektive subjektiv orientiert, bezeichnete er das heutige übersteigerte Reden vom Ich als Dekadenzphänomen, das vom verändernden Handeln abhalte.

Die Menschen, so Dahrendorf, kommen mit der ungeheuren Vervielfältigung der Möglichkeiten, in denen sich ein potenzierter Freiheitsbegriff manifestiert, nicht mehr zurecht. Gesellschaftliche und moralische Bindungen sind verloren gegangen, und der Prozess der Globalisierung trägt vollends dazu bei, gewachsene Strukturen zu zerstören. Dieser Zustand der Strukturlosigkeit, dem das heutige Ich schutzlos preisgegeben ist, ermuntert zu Versuchen, Bindungen künstlich wieder herzustellen. Mit finstern Absichten, wie Dahrendorf argwöhnt: Sie kommen im Priester- oder Militärgewand daher – und wie man ergänzen darf: vielleicht auch mit dem lautstarken Versprechen von Freiheit und Democracy – und zielen auf eine neue Diktatur. Dahrendorfs größte Sorge gilt denn auch der Frage: Wie können wir ohne Einbuße an Freiheit unsere Bürgergesellschaft so stärken, dass neue Bindungen entstehen?

Freiheit wurde bisher vorwiegend negativ als "Freiheit von" verstanden: als Freiheit von Staat, Moral, Religion, Natur, Tradition, Armut etc. Ein emanzipatorischer Freiheitsbegriff, der mit Fortschritt konnotiert wird. "Das haben wir jetzt langsam durchbuchstabiert", sagte Wilhelm Schmid, "wir müssen einen positiven Freiheitsbegriff finden." Wie Dahrendorf sieht er eher skeptisch in die nächste Zukunft; er vermutet, dass das Ich noch lange auf unzumutbare Weise überfrachtet wird, bis endlich die Einsicht wächst, dass nur solidarische Strukturen zum Überleben taugen. Für ihn ist es deshalb die vordringlichste Aufgabe der kommenden Jahre, die Einsicht in die Notwendigkeit eines neuen, positiven Freiheitsbegriffs zu befördern – der "Freiheit zu". Ein schmerzhafter Prozess, denn er kann nur auf Kosten der emanzipatorischen Freiheitsbegriffs, der "Freiheit von", gehen.

Einen Kontrapunkt zu solchen Überlegungen bildete der Vortrag in Form einer Video-Performance der österreichischen Künstlerin Elke Krystufek. Zu einigen gesellschaftskritischen Statements führte sie Videos vor, die sie beim Entfernen der Schamhaare und beim Kotzen ins Klo zeigen, und ihre Ich-Reflexion manifestiert sich in einem unstillbaren Bedürfnis, vor der Kamera ihre Beine zu spreizen. Als Vorbild ihrer vermutlich als Provokation gedachten, vom Publikum mit eisernem Schweigen quittierten Selbstdarstellung schimmern die Blutpisskack-Nummern der österreichischen Aktionskünstler der sechziger Jahre durch, deren Losung es war, den Faschisten aus dem Kleinbürger herauszukitzeln. Ein bisschen Jelinekscher Menschenhass und Selbstverachtung sind auch dabei.

Dass das arme Hascherl nur so die Aufmerksamkeit zu finden glaubt, die es zu seinem Ich-Sein braucht, weckt über die Peinlichkeit hinaus Mitleid. Dass hingegen im Ausstellungsbetrieb dieses nostalgische Beispiel von expressionistischer Selbststilisierung eines Kleinbürger-Ichs als vermeintlicher Tabubruch herumgereicht wird, ist ein Fall für die öffentliche Diskussion. Denn er spricht nicht gerade für die Sensibilität der Macher gegenüber den Zukunftsfragen, die heute die etwas intelligenteren Köpfe beschäftigen. Die Avantgarde hat wieder einmal einen ganz, ganz langen Bart.

Max Nyffeler

© 2003 Max Nyffeler. Der Text darf ohne Erlaubnis des Autors nicht weiter verwertet werden.

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