Mozart und der Zusammenprall der Kulturen

Chaya Czernowin über ihr Salzburger Projekt Zaide/Adama

Gespräch mit Max Nyffeler

Frage: Sie haben von Peter Ruzicka den Auftrag bekommen, für die Salzburger Festspiele 2006 eine Ergänzung zu Mozarts Singspiel Zaide zu komponieren. Zaide ist vom Stoff her eine Art krude Vorform zur Entführung aus dem Serail; es enthält neben den Gesangsnummern lange gesprochene Monologe und Dialoge, das 1779/80 entstandene Autograph bricht vor dem lieto fine ab. Eine reizvolle Aufgabe für eine heutige Komponistin.

Chaya Czernowin: Ja, aber zunächst wollte ich den Auftrag überhaupt nicht annehmen. Dann habe ich mir Mozarts Stück genau angeschaut und war sehr überrascht. Am Anfang des 1. und 2. Akts gibt es zum Beispiel sogenannte Melologe – Monologe mit Orchesterbegleitung –, und was Mozart da gemacht hat, ist unglaublich. Er springt von einem harmonischen Zentrum zum andern,  von einer Ausdruckshaltung in die andere. Die Musik ist sehr wechselhaft und brüchig. Das konnte ich mir vorher von Mozart nicht vorstellen. Schließlich hat mich diese Idee einer "Gemeinschaftsarbeit" mit Mozart dann doch sehr überzeugt.

Wie gingen Sie nun an das Projekt heran?

Als erstes kam mir der Gedanke einer gewissen Synchronizität zwischen meinem Teil und dem Mozarts, und dann die Vision einer Struktur: Mozarts Arien, die in sich geschlossen sind, kamen mir vor wie einzelne historische Gebäude oder Ruinen, die zu einer weiten Dorfstruktur angeordnet sind, mit viel Raum dazwischen. Und in diesen Terrain dazwischen wollte ich meine eigene Musik ansiedeln, so dass eine neue, übergeordnete Architektur aus Alt und Neu entsteht. Mein Beitrag nennt sich Adama; auf Hebräisch ist "adama" die Erde, "adam" der Mann, "dam" das Blut. Er füllt gleichsam die Leerstellen von Mozarts Zaide. So entsteht eine Art "Kontrapunktstück". Der Begriff stammt von Klaus Guth, mit dem ich das Konzept entwickelt habe. Er hat 2000 in München mein erstes Musiktheaterstück Pnima inszeniert und führt nun auch wieder bei Zaide Regie. 

Mit solchen verschränkten Ebenen haben Sie schon in früheren Werken  gearbeitet. 

Zaide/Adama bildet die logische Fortsetzung einer Entwicklung, die 1998 mit Six Miniatures and a Simultaneous Song begonnen hat, wo zwei gleichzeitig erklingende Stücke so transparent angelegt sind, dass das eine durch das andere hindurchscheint. Dann kam Shu Hai in an Orchestral Setting, wo ich zu meinem früheren Stück Shu Hai mitamen behatalat kidon (Shu Hai Practises Javelin) für Stimme eine Art Orchesterfolie oder einen Orchesterkontrapunkt geschrieben habe – nicht als Ergänzung oder Instrumentierung, sondern als ein Einbruch von etwas Anderem, Fremdem in die zerbrechliche Welt des Vokalstücks. Die dritte Stufe wird nun das Mozart-Projekt sein, wo ich genau diese Problemstellung wieder aufgreife und eine Konfrontation mit etwas Fremdem, das von außen kommt, darstelle. 

Mozarts Stück ist unfertig geblieben, und das eröffnet viele Möglichkeiten des Eingriffs. An welchen Punkten haben Sie angesetzt? 

An verschiedenen. Zunächst beim Text, und das heißt: mein "Kontrapunktstück" hat eine eigene Erzählung, wenn auch nicht eigentlich einen neuen Text. Es handelt von einer israelischen Frau und einem palästinensischen Mann, einsamen und zerbrechlichen Menschen. Sie träumen von der Möglichkeit einer Liebe und versuchen es, doch es scheitert an ihrer kulturellen Prägung und dem politischen Hintergrund. Das geschieht im ersten Teil. Im zweiten kommt die Stimme einer archetypischen Vaterfigur dazu, die ihnen vorwirft: Wie kann man so etwas auch nur denken! Das ist Betrug! Es ist die Stimme des im Freund-Feind-Denken gefangenen Kollektivs, das sie für ihren Dissens bestrafen will. Der zweite Teil zeigt die Verstörung der beiden Menschen und ihre Reaktion auf den "archetypischen Vater".

Mit was für Texten arbeiten Sie?

Das Textmaterial von Adama stammt aus Zaide. Ich habe aus den von Mozart verwendeten Texten bestimmte Wörter ausgewählt, die eine charakteristische Situation umschreiben, und sie zu einem Gedicht zusammengestellt. Aus dem ersten Melolog zum Beispiel habe ich Textfragmente wie "Von morgen bis Abend", "Arbeit", "Körper" "Wunden"  für meine erste „Arie“ übernommen.

Nehmen Sie auch musikalisch auf Mozart Bezug, oder sind das zwei getrennte Ebenen?

Es sind zwei getrennte Ebenen, die sich einander jedoch allmählich annähern. In Adama gibt es ganz normale Instrumente: Flöte, zwei Klarinetten, Posaune, Violine, Viola, zwei Celli, zwei Kontrabässe, zwei Schlagzeuger. Dieses Ensemble von zwölf Spielern besteht neben dem Mozart-Orchester von Zaide, und es gibt auch zwei Dirigenten. Es gibt Stellen, wo meine Musik mit dem Mozart-Orchester stark kontrastiert, es gibt andere, wo sie vom Ausdruck her eher Brücken schlägt oder zuspitzt, was bei Mozart nur anklingt. Vom Klang her nehme ich auf Mozart Bezug, und der Dialog der beiden Ebenen entwickelt seine eigene Dynamik.

Gilt das auch für den Gesang?

Nein, da gibt es keine Bezüge. Meine Figuren flüstern oder sprechen ebenso häufig wie sie singen. Sie sind zwar stets musikalisch konzipiert, doch es gibt keinen Operngesang im traditionellen Sinn. Es war mir war wichtig, Mozarts Musik als Artefakt aus einer älteren Epoche erscheinen zu lassen. Heute verfügen wir über ein viel weiteres Spektrum der Mittel und des Ausdrucks. Dieses möchte ich nutzen und im Sinn eines stilistischen Kontrasts der Ausdruckswelt Mozarts entgegensetzen.

Wie sind Zaide und Adama dramaturgisch miteinander verknüpft?

Es gibt eine Arie von Mozart, dann eine Arie von mir, usw. Das wechselt sich ab, und einige Male gibt es Synchronstellen, wo sie sich überlagern. Aber ich greife den Notentext von Mozart nie an. Ich führe einen Dialog mit ihm, und das erfordert, dass er als Gegenüber nicht angetastet wird. Wenn ich auf ihn reagiere und meine Reaktion dann wiederum auf ihn projiziert wird, entsteht ein gespiegelter Dialog.

Wie verhalten sich die Plots der beiden Ebenen zueinander? Geraten sie miteinander in Konflikt oder gehen sie ineinander über?

Für mich ist es wirklich ein Dialog;  was dann Claus Guth daraus machen wird, weiß ich nicht. Es gibt zwei getrennte Realitäten, und man weiß nicht immer, welche nun der Traum und welche die wirkliche Realität ist. Manchmal überschneiden sie sich. Im zweiten Akt, wo der Sultan sehr böse ist auf seine Sklavin Zaide, weil sie mit Gomatz geflohen ist, singt er: "Ich bin so bös als gut, doch reizt man meine Wut, so hab ich auch wohl Waffe, und diese fordern Blut." Er nennt Zaide eine Betrügerin und Schlange. Diese Worte übernehme ich und lege sie in den Mund des "archetypischen Vaters". Er sagt zur israelischen Frau: Du Schlange, du Betrügerin, wie kann man so etwas überleben. Beim Vater in Adama ist der Zorn natürlich etwas anderes als beim Sultan in Zaide. An dieser Stelle wird es hoffentlich ein bisschen klar, dass mein Beitrag ziemlich nahe an der Wirklichkeit ist, während die Wirklichkeit bei Mozart doch eher in märchenhafte Ferne gerückt ist. Der Zornesausbruch des "archetypischen Vaters" ist sehr brutal und realitätsnah. Die Situation kippt um, doch dann kommt die Zaide von Mozart mit ihrer Hauptarie "Trostlos schluchzet Philomele", in der sie fragt: Wie kann man jemanden tadeln, der die Freiheit wählt? Zaide ergreift hier das Wort für die Frau in Adama, die verstummt ist. Hier gibt es also eine sehr wesentliche Verknüpfung beider Ebenen – Mozart Heldin ist fähig zu reagieren, während das der Frau in Adama nicht gelingt.

Wie reagieren die beiden Liebenden in Adama auf die erfahrene Repression?

Sie sprechen fast nichts mehr, sie sind innerlich vollkommen zerstört und beklemmt  und ziehen sich auf sich selbst zurück. So hört es bei mir auf. Zaide hört damit auf, dass Gomatz und Zaide beim Sultan um ihr Leben bitten, und man weiß nicht, was danach geschehen wird.

Der glückliche Schluss, dass ihnen der Sultan die Freiheit schenkt, wird von Ihnen nicht mehr kommentiert?

Dieser Schluss steht zwar im Libretto von Johann Andreas Schachtner, doch er gehört nicht zum Originaltext des Bühnenstücks. Mozart hat ihn nicht komponiert. Kurz vor dem Schluss gibt es noch einen Verknüpfungspunkt, wenn das Mozart-Orchester und mein Ensemble zusammen spielen und auch die Sänger von Zaide und Adama zusammen singen. Das ist eine Art Gebet von etwa vier Minuten Dauer, eine Abstraktion der Situation in rein musikalischen Dimensionen. Es geschieht hier sehr wenig, aber es herrscht eine große Traurigkeit. Die Stimmen fügen sich zu einer Glissandolinie, die sich im Raum entwickelt. Jeder gibt das Glissando an den nächsten weiter, so entsteht diese Verbindung im Klang.

Das ist ein Stück mit einem offenen, tragisch eingefärbten Ende, eigentlich ganz "unmozartisch".

Ja, aber wie "mozartisch" war Mozart? Don Giovanni etwa endet ja auch nicht glücklich. Es gibt zwar den Schlussgesang, aber das d-Moll der Höllenfahrt bleibt doch viel stärker im Gedächtnis haften.

Sie hatten nie das Bedürfnis, dem düsteren Ende etwas anderes entgegenzusetzen, so etwas wie die Vision einer Alternative zum schicksalshaften Zusammenprall der Kulturen?

Nein, das war nie meine Absicht. Vielleicht schwingt in dem Stück etwas mit von einer Mahnung: So schlecht kann es enden, wenn alles so weiter geht wie bisher. Es will die Problematik des nationalistischen Wahns zeigen, der in uns allen steckt und gegen den wir immer wieder ankämpfen müssen. Und es geht der Frage nach, was passiert, wenn wir nicht in der Lage sind, uns gegen die eigene nationalistische Veranlagung, den verinnerlichten "archetypischen Vater", zur Wehr zu setzen.

© 2005 Max Nyffeler

Der Text basiert auf Gesprächen, die der Autor mit der Komponistin im August 2005 in Salzburg und im November 2005 per Telefon führte.
Die Printversion ist erschienen in: Mozart Almanach, Lesebuch und offizielles Programm zu den Salzburger Festspielen 2006, Residenz Verlag Salzburg 2005 (S. 61-66). nach oben

Dossier Chaya Czernowin
Komponisten: Portraits, Dossiers

 

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