Heiner Goebbels: Die verdeckte Subjektivität

Beobachtungen an der Musik von Heiner Goebbels

Es gibt kaum einen Komponisten, über den so viel Kluges und zugleich so wenig über die Musik selbst geschrieben worden ist wie Heiner Goebbels. Die meisten Aufsätze handeln von seinem Umgang mit dem Wort, von der Bühnendramaturgie, von der optisch-akustischen Wahrnehmung seiner Werke. Die Musik wird in der Regel nur funktional, im Hinblick auf das Wort oder die Szene, zur Kenntnis genommen: ein Extremfall der Sichtweise Prima la parola (respektive scena), poi la musica. Die Texte, so vermerkt etwa der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann, bewahren in seinen Kompositionen ihre Eigenständigkeit und werden nicht

"aufgelöst in der Lauge einer kompositorischen Struktur".

Und in der Laudatio auf sein Hörspiel Verkommenes Ufer, das 1984 den Karl-Sczuka-Preis des SWR erhielt, wurde von hoher preisrichterlicher Warte herab die Musik gar wörtlich als organisiertes Geräusch bezeichnet, das unterhalb

"des differenzierten Geräuschs, der Sprache",

angesiedelt sei. Was wiederum verständlich ist, wenn man weiß, dass der Laudator Helmut Heissenbüttel war, ein begnadeter Wort- und Begriffsmensch, dem das affektträchtige Gehabe von Musik vermutlich nie ganz geheuer vorkam.

Dass Heiner Goebbels mehr von Theater- und Literaturspezialisten als von der seriösen Musikkritik wahrgenommen wird, hat einerseits mit der ideologischen Enge der Neue-Musik-Szene zu tun, die mit abweichenden Positionen gerade in Deutschland schon immer ihre Probleme hatte. Ein Komponist, dessen multimediale Konzepte den Rahmen der approbierten neuen Musik sprengten, dessen Reflexionen zur Semiotik der musikalischen Sprache lange Zeit quer zum tonangebenden materialimmanenten Denken standen, wird da bis heute misstrauisch beäugt.

Andererseits hängt diese Sonderstellung auch mit seiner Arbeitsweise zusammen: Goebbels ist der Antityp eines Nur-Komponisten, der das Werk ausschließlich über die Partitur definiert. Aufführungspraktische Erfahrungen, die nicht aus dem Bereich der E-Musik stammen und sich kaum schriftlich kodifizieren lassen, spielen bei ihm eine wesentliche Rolle. Als Saxophonist und Keyboarder in experimentellen Rock- und Jazzformationen eignete er sich das Improvisieren und einen praxisbezogenen, "musikantischen" Umgang mit Elektronik an. Auch seine Erfahrungen als Hörspielautor, Theatermusiker und Regisseur eigener Musiktheaterstücke sind in sein kompositorisches Denken eingeflossen. Heute arbeitet er mit Vorliebe im Schnittpunkt der Medien, wo das Wort und die Bewegung, der Raum und der Sampler als gleichberechtigte Komponenten neben den Instrumental- und Vokalklang treten und das musikalische Werk zum Gesamtkunstwerk – aber nicht im Wagnerschen Sinn – erweitern.

Musikalische Verfahren in Schwarz auf Weiß

Schwarz auf Weiß, geschrieben 1995/96 für das Ensemble Modern, stellt ein kompositorisches Experimentierfeld dar, das mit der Instrumentalpraxis des Ensembles untrennbar verbunden ist. Goebbels zieht hier die Summe seiner Erfahrungen, die er in den sieben Jahren seiner Zusammenarbeit mit dem Ensemble, seit dem ersten gemeinsamen Projekt Red Run, sammeln konnte. Aus der Wechselwirkung zwischen Komponist und Ensemble ist in Schwarz auf Weiß ein ungeheurer Reichtum an unverwechselbaren Formen, Ausdrucksgesten, Kombinationen von Musik und Sprache, Klangfarben und Artikulationsarten hervorgegangen. Die Musik ist den exzellenten Ensemblemusikern gleichsam auf den Leib geschrieben.

Die aus 24 Teilen bestehende Partitur wartet mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden auf, die vom Laienmusikniveau bis zum Spezialistenkönnen reichen. Das hat damit zu tun, dass die einzelnen Musiker bis zu sechs Instrumente spielen – auch solche, die sie nur rudimentär beherrschen – und vereinzelt auch singen müssen. Eine über die traditionellen Spielweise hinaus gehende Artikulation wird in der Notation meist verkürzt dargestellt, da sich Goebbels, was die Aufführungspraxis angeht, auf einen gemeinsamen Code verlassen kann. Das betrifft auch die improvisatorischen Einsprengsel in der sehr genau notierten Partitur, die sich von der Aktionsart her in zwei Kategorien einteilen lassen: in instrumentale Aktionen, die die notierte Musik zum freien Spiel hin erweitern, und szenische Aktionen, aus denen der Klang gewissermaßen als kalkuliertes Abfallprodukt entsteht.

Zu den ersteren gehören etwa die jazzigen Trompetensoli in Readings II und in Unisono oder die instrumentalen Einwürfe bei der Rezitation von That Corpse. Die letzteren durchziehen die ganze Komposition und fungieren als Verklammerung ihrer szenischen und musikalischen Aspekte. Eine besonders raffinierte Konstruktion einer solchen klangproduzierenden szenischer Aktion stellt Koto Machine kurz vor Schluss dar: Über eine Ziehvorrichtung, die mit der Kurbel einer sich immer langsamer drehenden Sirene verbunden ist, wird ein von oben an einem Faden herunterhängender Metallstab in leicht schwingende Bewegung versetzt, wodurch er die Saiten einer Koto sanft streift. Mit der auslaufenden Bewegung des Sirenenschwungrads entstehen auch ein Ritardando und eine zufällige Unregelmäßigkeit des Saitenarpeggios. Physikalische Gesetzmäßigkeit wird übersetzt in Poesie, der Klang "erstirbt". Am andern Ende der Ausdrucksskala kann die szenische Klangproduktion auch raumfüllende, expansive Gestalt annehmen, wie in Text Machine, wo die Spieler auf der Bühne Bälle auf Tamtams werfen; über die donnernden Geräusche legt sich wie eine Folie ein von CD abgespielter, genau strukturierter Instrumentalsatz, der die Aufgabe hat, das chaotische Geschehen auf der Szene formal zu stabilisieren.

Zwischen Instrumentalklang und geräuschhaftem Aktionsklang steht der Sampler. Dieses Gerät kann sowohl als Speicher für Klänge aus der Vergangenheit als auch als Prozessor für die beliebige Veränderung von jeder Art von Klang benutzt werden. Goebbels verwendet ihn in seinen Kompositionen nicht als Füllmasse zum Verkitten der unterschiedlichen Klangsphären, sondern er setzt ihn als eigenständiges Element ein, das die Welt der real produzierten Klänge zu einer virtuellen Dimension hin öffnet. Hier wie anderswo achtet er auf die strikte Trennung der kompositorischen Materialien; mit seinen satztechnischen Auffassungen ist er eindeutig dem Ideal des Spaltklangs verpflichtet.

Die Samplersuite aus Surrogate Cities – es gibt sie in einer Fassung für großes Orchester und für Ensemble – stellt eine Fundgrube für die kreative Verwendung dieses elektronischen Geräts dar. Der Sampler wird aus der Rolle eines bloßen technischen Hilfsmittels befreit und zum Medium musikalischer Erfindung gemacht. Er wird zum lebendigen Instrument, für das Goebbels wie für jedes andere Instrument komponiert. Mit dem Unterschied, dass hier der kompositorische Prozess ohne die Mittlerfunktion des Interpreten auskommt. Komponiert wird der konkrete Klang, der dann im Moment der Aufführung durch Tastenbefehle des Keyboarders aus dem Speicher abgerufen werden kann.

Die Kraft des Unisono

In seiner Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern hat sich Goebbels in einen Bereich der kollektiven Virtuosität vorgewagt, der sich ihm unter andern Voraussetzungen wohl kaum erschlossen hätte. Ein Aspekt dieser Ensemblevirtuosität lässt sich technisch festmachen am Begriff des Unisono. In einem Gespräch mit Isabel Mundry, publiziert im Programmbuch Ich des Lucerne Festivals (Sommer 2003), erläutert Goebbels seine Vorliebe für Unisono-Passagen: Wenn eine solistische Partie, also eine individuelle Aktion, zum Unisono multipliziert werde, so werde

"ein zunächst sehr persönlicher Gedanke vergesellschaftet";

es entstehe eine besondere Art von Kommunikation unter den Musikern, die sich in Form einer erhöhten Aufmerksamkeit auch auf das Publikum übertragen könne. Jenseits dieser quasi-soziologischen Begründung – sie stellt nebenbei eine genaue Definition des Ensemblemusizierens dar – ist das Verfahren aber auch in rein musikalischer Hinsicht interessant. Indem die differenzierte Sprechweise des Individuums auf die kleine Gruppe projiziert wird, entsteht eine neue Ausdrucksqualität, die anders nicht zu erreichen ist. Auffällig oft bilden bei Goebbels die Unisono-Melodien schnelle, nervöse Figurationen mit einer Tendenz zu komplizierten Rhythmen und weit aufgefächerter Melodik, was den Anspruch der kollektiven Virtuosität plastisch hervortreten lässt. Doch er setzt das Unisono auch als struktur- und formbildendes Prinzip ein.

In seinen Partituren lassen sich mehrere Typen von Unisono voneinander unterscheiden. Als Grundform gibt es zunächst die Führung zweier oder mehrerer Stimmen im Einklang; sie kann sich über längere Zeit erstrecken und lässt die Instrumentalcharaktere vollkommen miteinander verschmelzen. Es entsteht eine neue, schwer zu identifizierende Klangfarbe, die durch alle Register aufrecht erhalten wird und in ihrer synthetischen Künstlichkeit an gesamplete Musik erinnert. Beispiele dafür finden sich in Schwarz auf Weiß häufig. Im Abschnitt Unisono etwa werden Beginn und Schluss durch die weit ausgreifende Geste eines drei Oktaven umspannenden Tutti-Laufs markiert. Oder im Teil Basement: Hier wird eine rhythmisch und melodisch kompliziert gebaute Melodie von Violine und Klarinette durchgängig im Unisono gespielt. Die spielerische, quasi-improvisatorische Leichtigkeit, mit der die beiden Interpreten diese Melodie nachzeichnen, bringt genaue Konstruktion und freie Entfaltung der Linie in ein vollendetes Gleichgewicht. Ähnliche Konfigurationen finden sich öfters auch in Industry and Idleness (z. B. vor Schluss des dritten Teils, wo Fagott, Posaune, Kontrabass und Sampler zu einem bizarren Gruppen-Solo in tiefer Lage anheben) und in Surrogate Cities. Hier haben sie in der Regel eine geringere solistisch-virtuose Ausprägung, womit der Komponist der Orchestersituation Rechnung trägt.

In einem zweiten Typ von Unisono wird die von einem Hauptinstrument gespielte Melodie abschnittweise durch schnell wechselnde Begleitinstrumente verdoppelt und somit der Klang fortlaufend anders eingefärbt. Solche Klangfarbenmelodien können auf kleinstem Raum entstehen. Mustergültig zeigt sich das in den instrumentalen Begleitfiguren in Chaconne (Kantorloops), einem musikalisch anrührenden Moment in der an Ausdrucksperspektiven reichen Komposition Schwarz auf Weiß. (Die ursprünglich für Surrogate Cities geschriebene Chaconne hat Goebbels in sein Musiktheaterstück übernommen.) Mit ihren schnellen, schattenhaften Figuren umspielen hier die Instrumente die gesamplete Stimme des jüdischen Kantors. In Takt 20 spielt die Harfe ein Arpeggio, bestehend aus sechs von Fis bis e' aufsteigenden Zweiunddreißigstelnoten, um dann wieder in zwei schnellen Schritten zum Ausgangston zurückzufallen. Die Harfenstimme wird von Cello, Viola, den beiden Violinen, Klavier und Vibraphon unisono multipliziert, wobei aber jedes Instrument eine andere Tongruppe des kurzen Arpeggios mitspielt. Auf den insgesamt neun Tönen der Harfenfigur kommen auf diese Weise nicht weniger als sechs verschiedene Instrumentalkombinationen, d. h. Klangfarben zustande – ein Farbenreichtum im Mikrobereich, der seinesgleichen sucht.

Ein dritter Typ ist die motorisch ablaufende, schnelle Bewegung, wie sie auf dem Höhepunkt von The Concert (Zither), dem Eröffnungsstücks von Schwarz auf Weiß, alle melodiefähigen Instrumente mit Ausnahme der Bassflöte erfasst, was zu einem mächtig aufrauschenden Tutti führt. Anschließend wird das Unisono im gleichen raschen Tempo hoquetus-artig aufgesplittert – ein Moment in der "Auftrittsnummer" des Ensembles, in dem die Musiker ihre traumwandlerische Sicherheit im Zusammenspiel auf spektakuläre Weise demonstrieren können.

Auch in den orchestralen Werken treten groß besetzte Unisono-Partien als charakteristische Tutti-Strukturen in Erscheinung. Sie überlagern sich teilweise mit andern kompositorischen Schichten, wachsen aus ihnen hervor oder verschwinden in ihnen. Zu Beginn des vierten Teils von Industry and Idleness erscheinen sie als rasende, den gesamten Tonraum durchmessende Sechzehntelläufe im Tempo Viertel=138. In der Courante aus der Samplersuite (in Surrogate Cities), schießen Unisono-Triolen, kontrapunktiert von einer synkopischen Begleitung des Schlagzeugs, irrlichternd durch alle Register und Klangfarben.

Eine Erweiterung dieses Typs bildet die Auffächerung des Unisonos zur parallel geführten Mehrstimmigkeit, wie sie in Schwarz auf Weiß im Teil Writings I zu beobachten ist. Die fünf Streicher und die Bassflöte bilden hier einen sechsstimmigen Mixturklang (Startpunkt ist der Akkord c'-d'-es'-fis'-gis'-a'), der – bei starr beibehaltener Intervallstruktur – in synkopischen Sechzehnteln und hakenschlagender Melodik durch das ganze Stück gejagt wird. In den größer besetzten Werken erhält dieses mehrstimmig aufgefächerte Unisono durch die Klangfülle eine neue Qualität. Zum Beispiel im Orchestersatz von In the Country of Last Things (aus Surrogate Cities), der zur Hauptsache aus einer einzigen Melodielinie besteht: Diese wird zum sechsstimmigen Mixturklang multipliziert, der, einem breiten Pinselstrich gleich, einen kraftvollen Kontrapunkt zur Sprechstimme abgibt.

Die Unisono-Partien, die in den Partituren als gezielte Entfesselung von Bewegungsenergien eingesetzt sind, verweisen auf einen Kernimpuls von Heiner Goebbels' Komponieren, das gestische Moment. Dieses hängt wiederum eng mit seiner dynamischen Raumvorstellung zusammen – der Überbrückung von Distanzen und der Strukturierung von Zeitverläufen – und bildet damit eine Schnittstelle zwischen seinem musikalischen und szenischen Denken.

Formbildung und musikalischer Satz

Ein prozesshaftes Denken, bei dem es um die Entfaltung der inneren Triebkräfte eines Klang oder einer Struktur geht, findet sich bei Heiner Goebbels selten. Solche Vorstellungen gehören zu den Merkmalen einer primär ausdrucksbezogenen Ästhetik, und das ist nicht sein Gebiet. In der Gestaltung der musikalischen Form folgt er vielmehr einem architektonischen Prinzip: Er gliedert Räume und Zeitstrecken. Bewegung erfolgt nicht aus einer inneren Dynamik des Materials heraus, sondern resultiert aus dem planmäßigen Setzen von Vektoren: Bewegung von hier nach dort, ausgestattet mit dem unwiderstehlichen Energieschub von körperlich erfahrbaren Rhythmen. Aber auch Bewegung als "rasender Stillstand", wenn sie um einen Punkt kreist oder einen in Statik verharrenden Klangraum zum Vibrieren bringt. Manche der orchestralen Großpanoramen von Surrogate Cities mit ihren grandios erregten und doch seltsam starren Klangflächen bestehen aus solchen paradoxen Bewegungszuständen.

In der Großform herrscht das Reihungsprinzip vor, zyklische Verknüpfungen durch motivische Verwandtschaft oder variative Entwicklung sind selten. Die Einzelteile von Surrogate Cities sind in ihrer Abfolge nicht zwingend festgelegt und müssen unter Umständen auch nicht alle gespielt werden. Die Samplersuite, ein halbstündiges Kernstück aus Surrogate Cities, besteht ihrerseits aus zehn Einzelsätzen mit festgelegter Reihenfolge. Die Sätze sind zwar mit Courante, Sarabande, Gigue usw. überschrieben, doch sie entsprechen nicht den barocken Satztypen. Die Titel sind vielmehr assoziativ gedacht.

Und wie in den Suiten von Couperin besitzen sie charakterisierende Zusätze, die auf mögliche Bedeutungsfelder oder technische Verfahren des Sampling verweisen: Allemande/Les Ruines, Bourrée/Wildcard, Menuett/L'Ingénieur oder, als listiges Wortspiel: Air/Compression. Die Samplersuite und noch vielmehr Schwarz auf Weiß präsentieren sich damit als eine Sammlung von Charakterstücken mit je eigener Physiognomie. Im Gegensatz zur Samplersuite ist in Schwarz auf Weiß eine subtile Dramaturgie am Werk, die die 24 musikalisch-szenischen Miniaturen auf fast intuitive Weise miteinander verknüpft. Es ist deshalb nicht ganz vermessen, das Werk von seinem Formverständnis her in die Nähe romantischer Zyklen wie Schumanns Carnaval oder Chopins Préludes zu rücken.

Die musikalischen Binnenstrukturen sind bei Goebbels durch Konzeptionen von gleichsam geometrischer Klarheit geprägt. Auch hier nicht die Kunst der entwickelnden Variation und der strukturellen Synthese der Elemente, sondern die parataktische Setzung gleichwertiger, klar voneinander getrennter Ereignisse, die in ihrer Individualität stets erkennbar bleiben sollen. Sie werden indes durch harmonische, klangliche und rhythmische Mittel kunstvoll miteinander verfugt und einander überlagert. Gerade den Nahtstellen, wo ein Formteil oder ein gestischer Typ in den nächsten übergeht, widmet Heiner Goebbels größte Aufmerksamkeit. Er besitzt ein hoch entwickeltes Gespür für die Dramaturgie des Ablaufs und für die Gewichtung des einzelnen Ereignisses im Gesamtzusammenhang.

Wenn in der horizontalen Dimension die Reihung und das Suitenprinzip dominieren, so in der senkrechten das Prinzip der Schichtung. Die einzelnen Schichten sind auf ihre Unterscheidbarkeit hin angelegt, jede folgt ihrer eigenen Logik. Wenn sie trotzdem zu einem kompakten Gesamtgefüge zusammenwachsen, so ist das vor allem der Rhythmik zu verdanken, die Merkmale einer strukturbildenden Kraft besitzt. Sie sorgt für eine solide Verzahnung der verschiedenen Schichten. Durch Komplementärrhythmen, Synkopen und eng ineinander verhäkelte Kleinstrukturen entsteht in manchen Tutti-Sätzen eine rhythmische Polyphonie von hoher Komplexität, in der die Taktschwerpunkte planmäßig verschleiert werden und die bei aller Klangfülle den Eindruck von gleichmäßig schwebender Leichtigkeit hervorzurufen vermag.

Dimensionen des Inhalts

Solche komplexen, mit synkopischen Widerhaken versehenen Bewegungsmuster spielen sich manchmal innerhalb einfacher, überschaubarer Formen ab, die das musikalische Geschehen wie in einem Zeitrahmen einfassen. Oft wird aber auch die Form durch immer neue Ableitungen und Erweiterungen eines Bewegungsmodells fortlaufend neu generiert, so dass ein Stück am Schluss ganz woanders landet. Bei aller Fasslichkeit ihrer Oberfläche steckt die Musik von Heiner Goebbels voller Unvorhersehbarkeiten.

Dass die freie Erfindung nicht in starren Formschemata erstickt, wird auch durch die von außen einwirkenden Momente garantiert, an denen Goebbels' Kompositionen reich sind. In Schwarz auf Weiß spielt, worauf schon der Titel hinweist, der Gedanke des Schreibens eine zentrale Rolle, ebenso die Person von Heiner Müller, der mehrfach mit seiner Stimme aus dem Lautsprecher zu hören ist. Literarische Assoziationen, persönliche Erinnerungen und szenische Fantasie verbinden sich hier auf unauflösliche Weise mit der musikalischen Erfindung. Das Kammerorchesterstück Industry and Idleness operiert mit der durch Hogarths Bildergeschichte vorgegebenen Gegenüberstellung von Gut und Schlecht, Fleißig und Faul, Aktiv und Passiv. Zum ironischer Ton, den man unterschwellig heraushören kann, wurde Heiner Goebbels vermutlich durch Lichtenbergs Kommentare zu den moralties des Engländers angeregt. In Surrogate Cities sind es die Großstadtfantasien aus Literatur und Film, die den gedanklichen Hintergrund abgeben. Sie haben sich auch im kaleidoskophaften Prinzip der Form niedergeschlagen. Die Perspektivenvielfalt, in der sich die Problematik der modernen Großstadtexistenz spiegelt, kann in ihrer Gesamtheit, wenn überhaupt, dann nur als vielfach gebrochenes Tutti und fragmentarisch erfasst werden.

Der in Surrogate Cities thematisierte Widerspruch zwischen objektiver Struktur und subjektivem Ausdruck teilt sich musikalisch nirgends so sinnfällig mit wie in der bereits erwähnten Chaconne aus der Samplersuite. Die Großstadt wird hier zum archäologischen Bezirk, wo Goebbels die Stimmen längst verstorbener jüdischer Kantoren in Form alter Schellackaufnahmen ausgräbt und, nachdem er sie mit dem Sampler einer sanften Restaurierung unterworfen hat, in den musikalischen Kontext einmontiert. Ein Stück weit gelingt ihm das Kunststück, die orientalischen Melismen des Synagogalgesangs mit der starren, historisierenden Konstruktion des Chaconne-Basses ins Gleichgewicht zu bringen. Doch dann beginnt der Instrumentalsatz, angesteckt durch die ekstatisch oszillierende Stimme, zu wuchern. Das Bassthema verliert sich, taucht nochmals auf höherer Stufe auf und weicht dann einem ätherischen Streichersatz, der sich zusammen mit der Gesangsstimme zum Schluss langsam in der Höhe verliert. Eine Himmelfahrt der ganz besonderen Art, in der auch die Musik nicht mehr weiß, was sie zu Beginn einmal war.

Heiner Goebbels hat immer wieder betont, dass ihm das subjektive, im romantischen Geniebegriff wurzelnde Komponieren verdächtig sei, weil es zum Monologisieren neige und den Hörer ausschließe. Dem wolle er ein kompositorisches Verständnis entgegensetzen, das in der Lage sei, den Hörer einzubeziehen, indem es ihm ein Angebot an Materialien und Strukturen mache, die offen für seine eigenen Gedanken seien. Wie er dieses Versprechen einzulösen trachtet, lässt sich etwa ablesen an seinem Distanz schaffenden Tonfall, an der angestrebten Objektivität der musikalischen Gesten und an einer Formensprache, die die musikalische Mitteilung nicht in ein Geheimnis hüllt, sondern sie im hellen Licht der rationalen Darstellung einsichtig zu machen versucht.

Trotzdem weiß er natürlich genau, dass er sich aus seiner Subjektivität nicht davonstehlen kann. Sie zieht sich in seinen Werken auf die Metaebene der Disponierens zurück, von wo aus sie distanziert, aber mit wacher Präsenz die kompositorischen Elemente ordnet, bewertet, zum Klingen und Sprechen bringt. Und damit wieder mit Ausdruck erfüllt. So hält die Subjektivität durch die Hintertür wieder Einzug in das Kunstwerk, und auch das alte Geheimnis lugt wieder hervor – es zeigt sich nur in anderer Form. Aber damit aufzuräumen liegt weder in Goebbels' Absicht noch in seinem künstlerischen Interesse. Er überlässt es den klugen Kommentatoren, sich an diesem Problem die Zähne auszubeißen.

© 2003 Max Nyffeler

Bei dem Text handelt es sich um die gekürzte Version eines Beitrags für den Band Composers-in-Residence, Lucerne Festival 2003, Stroemfeld Verlag Frankfurt/Basel.

Komponisten: Portraits
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