Karl Amadeus Hartmann, der einsame Sinfoniker

Zum 100. Geburtstag des Komponisten am 2. August 2005

Die Bedeutung eines künstlerischen Ereignisses bemisst sich heute oft genug nach dem Terminkalender. Zentenarfeiern, runde Geburts- und Sterbetage bestimmen den Gang des Kulturbetriebs. Doch manchmal fällt ein rundes Datum auch ganz unerwartet mit einer neuen, zeitbedingten Aktualität des Gefeierten zusammen.

Ein solcher Fall ist der hundertste Geburtstag von Karl Amadeus Hartmann. Der am 2. August 1905 in München geborene Komponist war in der Nachkriegszeit allgemein hoch angesehen, und nach seinem frühen Tod 1963 galt er in seiner Heimatstadt als künstlerisch-moralische Autorität, auf deren Zeitgenossenschaft man sich etwas zugute hielt. Doch abgesehen von einer treuen Hörerschar aus seinem engeren und weiteren Umfeld und vereinzelter Initiativen wie der des Nachwuchsdirigenten Ingo Metzmacher, der 1998 eine Gesamtaufnahme seiner Sinfonien auf CD veröffentlichte, wurde Hartmanns Werk in der breiten Öffentlichkeit kaum je angemessen gewürdigt.

Noch vor einigen Jahren reisten Lorin Maazel und das Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks lieber mit Strauss und Mahler im Gepäck nach Brüssel zu einem hochoffiziellen Konzert in Anwesenheit des bayerischen Ministerpräsidenten und des belgischen Königshauses, anstatt die hohen Gäste mit Hartmanns Sinfonia tragica bekannt zu machen. Dieses Werk sollte ursprünglich 1941 in der belgischen Hauptstadt uraufgeführt werden, was aber die deutschen Besatzer verhinderten, und es ist bis heute dort nie erklungen. Die Uraufführung fand, bezeichnend für das Schicksal von Hartmanns Werken, erst 1989 in München statt.

Heute hat sich das Klima gewandelt. Im Jubiläumsjahr sind in München und andern bayerischen Städten zahlreiche Werke von ihm zu hören, eine Hartmann-Gesellschaft wurde gegründet und seine Wohnung in Schwabing als Gedenkstätte hergerichtet; diverse Publikationen würdigen den Komponisten, darunter ein von Ulrich Dibelius herausgegebener Band, dessen dreizehn Beiträge ein detailliertes und lebendiges Bild von Werk und Person entwerfen. Im Oktober folgt sogar noch ein Staatsakt. Eine treibende Kraft hinter diesen Aktivitäten ist der Bayerische Rundfunk, dessen Konzertreihe "Musica Viva" einst von Hartmann gegründet wurde.

Soviel heftige Umarmungen leistet man sich nur in München, wo kritische Geister oft spät, dann aber umso begeisterter an die liberal-konservative Brust gedrückt werden. Dass Hartmann ein unbeugsamer Antifaschist war, ein Künstler mit Gewissen, der lieber für die Schublade schrieb als sich wie so viele andere bei den Machthabern anzubiedern, wusste man zwar schon immer. Aber es scheint, dass diese moralische Haltung in ihrer objektiven Grösse erst mit wachsender Distanz zum Nationalsozialismus richtig begriffen wird; zu gut funktionierten bei den Überlebenden die Verdrängungmechanismen. Heute gilt er unangefochten als ein Prototyp eines engagierten Komponisten, der jenseits aller Ideologien seiner Idee von Humanität treu blieb und aus dieser Haltung heraus Werke von einzigartiger Aussagekraft schrieb. 

Innere Emigration

Die ersten Kompositionen des in eine Münchner Künstlerfamilie hineingeborenen Hartmann sind aufgeweckt-freche Stücke im Stil des Zeitgeistes der zwanziger Jahre, in denen er, wie er später schrieb, unbekümmert Elemente von Futurismus, Dada und Jazz zusammenmixte. Dann kam das Jahr 1933 und damit der entscheidende Bruch in seiner künstlerischen Biografie. Es folgten  zwölf Jahre innere Emigration.

Die in diesen dunklen Jahren entstandenen Werke sind erfüllt von Visionen des Schreckens. Anklage und Mitleid verbinden sich zur großen pathetischen Gebärde, die hinfort zum Kennzeichen vor allem seiner Orchesterwerke wird. Hartmann wird zum Sinfoniker, der auch unter schwierigsten Bedingungen nicht willens ist, die humanen Utopien, die sich seit Beethoven mit der Gattungstradition verbinden, preiszugeben.

1934 schreibt er Miserae, eine sinfonische Dichtung für Orchester. Sie trägt die Widmung: "Meinen Freunden, die hundertfach sterben mussten, die für die Ewigkeit schlafen, wir vergessen euch nicht (Dachau 1933/34)". Es ist neben dem ersten Streichquartett das einzige Werk, das noch  uraufgeführt wird – in Prag 1935.

Kurz danach entsteht das Bühnenwerk Des Simplicius Simplicissimus Jugend nach Grimmelshausen; das Libretto schreibt er zusammen mit dem Dirigenten Hermann Scherchen, den er 1931 kennengelernt hat und der ihm wesentliche kompositorische Impulse vermittelt. Das Elend der Gegenwart wird darin auf die Schreckenszeit des Dreissigjährigen Kriegs projiziert. Das kleine, mit viel Schlagzeug angereicherte Orchester produziert einen schlanken, rhythmisch geschärften Klang. Schlichte Klage und aggressive Marschrhythmen, Sprechen und expressives Arioso wechseln sich ab. Als erzählende Chronik nähert sich das Werk dem epischen Theater Brechtscher Prägung an. 

Irrwege der Rezeption

Die 1933-45 entstandenen Werke sollten fast ausnahmslos erst nach dem Krieg erklingen. Viele revidierte Hartmann, andere baute er in neue Kompositionen ein. Er wusste: Die Zeit, die den Hallraum für sie abgab, war vorbei und damit auch die Möglichkeit eines adäquaten Hörens.

Die Geschichte der einzelnen Werke ist denn auch reichlich unübersichtlich. Der Simplicissimus wurde 1956 überarbeitet und zwei Jahre später unter der Leitung von Hans Rosbaud konzertant uraufgeführt. Das 1935 fertiggestellte Kammerkonzert für Klarinette, Streichquartett und Streichorchester erklang erstmals 1969 in Zürich unter Rudolf Kempe mit dem Solisten Rudolf Stalder. Das Symphonische Fragment für Altstimme und Orchester von 1935/36 mit dem Text von Walt Whitman überarbeitete Hartmann nach dem Krieg zweimal, uraufgeführt wurde es schließlich 1957 in Wien als 1. Symphonie (Versuch eines Requiems). Die Liste der Metamorphosen liesse sich verlängern.

Die Sinfonien bilden einen Hauptstrang in Hartmanns Schaffen. Mit ihrem weiten Atem und ihrer gebrochenen Faktur setzen sie das Erbe Bruckners und Mahlers, auch der Orchesterstücke der frühen Wiener Schule fort. Der Ausdrucks- und Bekenntnismusiker Hartmann fühlte sich Alban Berg wesensverwandt und besuchte 1942 in der Nähe von Wien noch Anton Webern, um  bei ihm Unterricht zu nehmen.

Sein Umgang mit der Gattungstradition verrät kreative Freiheit. Die teleologisch aufs Finale ausgerichtete Form der traditionellen Sinfonie vermeidet er und bevorzugt statt dessen die Polarität von Adagio und konzertant-schnellem Satz. Die sechste Sinfonie ist auf dieses Satzpaar reduziert. In der siebten bildet ein Adagio das Zentrum zwischen zwei schnellen Sätzen, in der vierten wird umgekehrt ein schneller Mittelsatz von zwei langsamen Teilen eingerahmt. Das Adagio, mehr ein Ausdruckstyp als eine Tempobezeichnung, ist der Ort, an dem seine Musik zu sich selbst kommt, hier entfaltet sie ein Maximum an Ausdrucksintensität. Die zweite Sinfonie ist als ein einziger großer Adagio-Bogen konzipiert. 

Politische Signale

Die kontrapunktisch dichten, expressiv aufgeladenen Instrumentalsätze Hartmanns sind von enormer Sprachkraft. In sie eingewoben sind gelegentlich mehr oder weniger stark verarbeitete Zitate, die mit ihrer Signalhaftigkeit eine zusätzliche semantische Schicht in das Werk einführen. Das reicht von dem in der russischen Revolution von 1905 gesungenen Trauermarsch Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin im Schlusssatz des Concerto funebre von 1939 über das Bauernlied Als Adam grub und Eva spann im Simplicissimus – der Volksliedforscher Wolfgang Steinitz datiert diese Melodie auf die Zeit der ersten Bauernaufstände im 15. Jahrhundert – bis zur Sozialistenhymne Brüder, zur Sonne, zur Freiheit in der Klaviersonate 27. April 1945. Dieses aufgewühlte, zwischen Verzweiflung und Hoffnung eingespannte Klavierstück komponierte Hartmann spontan unter dem Eindruck eines Elendszugs von Häftlingen aus dem Konzentrationslager Dachau, der an jenem Tag von SS-Leuten an seinem Haus vorbeigetrieben wurde.

In dieser Komposition begibt sich Kunst an den Rand des ästhetischen Bezirks und wird unmittelbar Zeitzeugenschaft – ein Memento für die Nachgeborenen. Es ist ein Extremfall des künstlerischen Engagements, das Hartmanns Werke wie ein roter Faden durchzieht. "Politisch" ist sein Musik schon, aber nicht im Sinn einer Verkündigungsästhetik als Propagieren von Losungen und Ideologien, sondern wegen ihres unverwechselbaren Tonfalls. In ihm artikulieren sich der Protest gegen Unrecht und Gewalt, eine unendliche Trauer über den Verlust von Humanität und zugleich ein unbesiegbarer Glaube an das Gute. Das macht ihre zeitlose Grösse aus.

Der Förderer des Neuen

Nach 1945 gehörte Karl Amadeus Hartmann zu den wenigen politisch Unbelasteten. Zu den verantwortungsvollen Tätigkeiten, die ihm beim Wiederaufbau des Musiklebens übertragen wurden, gehörte 1945 die Gründung der Konzertreihe "Musica Viva" in München. Es war ein zukunftsträchtiger Ort, wo die Stücke junger Komponisten und der bislang Verfemten in brechend vollen, ungeheizten Sälen aufgeführt wurden.

Hartmann wuchs in die Rolle des generösen Förderers hinein, der den Jungen Mut machte und sie zu geistiger Offenheit erzog. Komponisten wie Nono, Henze, Boulez und Stockhausen erlebten hier erstklassige Aufführungen ihrer frühen Werke, für manche wurde Hartmann lebenslang Vorbild und Freund. Hans Werner Henze erinnert sich an die grosse Liebenswürdigkeit und Selbstlosigkeit Hartmanns und lobt die Reinheit, Direktheit und Nicht-Affektiertheit seiner Musik: "Eine grosse Botschaft wird mit grosser Eindrücklichkeit und Kraft präsentiert, und solche Botschaften altern nicht, verändern sich nicht und bleiben in der Geschichte erhalten."

Das Trauma des Nationalsozialismus wurde Karl Amadeus Hartmann nie los. 1955, als das Wirtschaftwunder in vollem Gang war und diejenigen, die Schuld auf sich geladen hatten, schon wieder alles verdrängt und vergessen hatten, komponierte er Lamento, eine kleine Kantate für Sopran und Klavier über Texte von Andreas Gryphius. "Bedrängte Zeit, vergeh / Und führe mit dir weg die Last von diesem Herzen!" Die zum Zerreissen weitgespannte Melodie klingt an dieser Stelle wie ein beschwörendes Stossgebet.

© 2005 Max Nyffeler

(20.7.2005)

Komponisten: Portraits, Dossiers

 

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