Der dialektische Donnerschlag

Anmerkungen zur Musik von Nicolaus A. Huber
Von Max Nyffeler

Bei der Komposition "Eröffnung und Zertrümmerung" für Ensemble, Tonband und Videoprojektionen ad libitum von Nicolaus A. Huber wird der Hörer wird gleich mit dem ersten Takt in die Musik hinein gerissen. Die klirrende Präsenz des Klangs, eine Kombination von konkreten Geräuschen und Instrumentalaktionen, lässt keine Zweifel darüber aufkommen, daß es der Musik ernst ist mit dem, was der Titel verspricht. Doch dann folgt auf die momenthafte Aktion ein langer Prozess, indem sich  - in der vollständigen Fassung mit Video - die beiden medialen Ebenen Bild und Ton gegenläufig zu einander entwickeln. Die Musik wird mit der Zeit immer abstrakter und kahler, und umgekehrt die Videospur immer konkreter: von der konturenlosen Lichtprojektion des Beginns gelangt man am Schluss zu Bildverläufen mit konkreten menschlichen Aktionen. Die Bildinhalte sind nicht vorgegeben, und am Ende, so der Komponist, können die Medien total auseinander klaffen.

In vielen Werken von Nicolaus A. Huber gibt es eine klare, übersichtliche Disposition eines Ausgangsmaterials, das einer Reihe von ebenso klaren Manipulationen und formalen Prozessen unterworfen wird. Die Karten legt der Komponist dabei offen auf den Tisch, die Planung ist ohne Geheimnisse und rational nachvollziehbar. Das klangliche Resultat jedoch besitzt oft den Charakter eines Vexierbildes. Einerseits springt es den Zuhörer in seiner Konkretheit direkt an, andererseits ist es ein verschlüsseltes Bild komplexer gedanklicher Prozesse. Man ahnt, daß sich in der Musik mehr verbirgt, als die griffige, oft schockhaft konkrete Oberfläche verrät, und der Fokus der Aufmerksamkeit wandert beim Hören zwischen Vordergrund und Tiefenschichten unablässig hin und her. So auch in "Eröffnung und Zertrümmerung", wo harte Schlagzeugakzente, entfernter Straßenlärm mit untermischtem Gesang, einsame Akkordeontöne und tumultuöse Tamtamklänge aufeinander prallen: Durch die enge Nachbarschaft der scharf divergierende Klangcharaktere wird ein tief gestaffelter Klangraum aufgerissen.

Diese räumliche Dialektik von Nähe und Ferne, der unterschiedliche Präsenzgrad der klanglichen Aktionen, ist charakteristisch für viele Kompositionen von Nicolaus A. Huber. Doch der Begriff des Raums besitzt bei Huber mehrere Dimensionen. Da ist einmal die physikalische Dimension des Klangraums, wie er üblicherweise im Konzertsaal wahrgenommen wird. Dann gibt es aber auch den symbolischen Raum der Erinnerung, in dem die Ereignisse der Vergangenheit in unterschiedlicher zeitlicher Nähe und Ferne erscheinen. Und weiter den Raum, der bei einer musikalischen Aufführung durch unmittelbare Körperaktionen, etwa die Armbewegungen des Interpreten, ausgemessen wird. Diese Dimension des Raums als körperbezogener Aktionsraum spielt im Klavierstück "Beds and Brackets" eine maßgebliche Rolle. Die Distanz des Interpreten zum Objekt, das er bearbeitet, das heißt zum Klavier, wird hier ausgemessen; sie wird zum kompositorischen Parameter. Der Klang wird geprägt durch den Abstand des Spielers zu den verschiedenen Spielorten auf der Tastatur, sowie durch Bewegungstempo, Armlänge, Armgewicht und energetisches Potential. Huber: "Die jeweiligen Töne werden aus der 88-tastigen Klaviatur aufgrund von Bewegungsentwürfen abgerufen, deren Streckenmaße und Geschwindigkeiten, multipliziert mit den jeweils zu bewegenden Organgewichten, Ton und Harmonik charakterisieren." Klang ist somit nicht als abstrakte musikalische Struktur komponiert, sondern als Resultat von Körperaktionen.

Neben dem Raum als physikalisch strukturiertem Aktionsraum spielt in "Beds and Brackets" die zweite Hauptrolle der psychische Raum der Erinnerung. Huber hat eine zweite Komposition in "Beds and Brackets" einmontiert, nämlich das Stück "Statement zu einem Faustschlag Nonos". Das hat nun ganz konkrete biographische Hintergründe. Er erinnere sich, schrieb Nicolaus A. Huber im Kommentar zum Stück, daß er mit Luigi Nono kurz vor dessen Tod in einer Kompositionsjury zusammen war, und in diesen Tagen habe Nono manchmal mit der Faust schwere Rhythmen im vierfachen Forte auf den Tisch gehauen. Und diese "Befreiungsschläge", so Huber, waren ganz aus dem Nahbereich des Machens und Wahrnehmens geboren. Also auch hier wieder Körperlichkeit, aber aus der Erinnerung rekonstruiert.

Und um die komplexe Verschachtelung von Gedanken noch weiter zu treiben, besitzt der die zeitliche Entfernung, der "Raum der Erinnerung" noch einen zusätzlichen Aspekt. Die "Brackets" im Titel beziehen sich darauf, dass bestimmte Passagen mit numerierten Klammern versehen sind. Wenn die Nummern in der Partitur später wieder auftauchen, muss die entsprechende Passage aus der Erinnerung nochmals gespielt werden. Huber spricht von der Simulation von Gegenwart mit Material aus der Vergangenheit. Und schließlich ermöglicht die Komposition noch eine weitere Raumerfahrung , wenn kurz vor Schluss die Fenster und Türen des Saals geöffnet werden - ein symbolischer Akt der Erweiterung von Wahrnehmung und Bewußtsein, den übrigens auch John Cage, er wiederum in Anlehnung an zenbuddhistische Rituale, zum Schluß seiner nächtelangen Vokalperformance "Empty Words" praktiziert hat. Dadurch endet "Beds and Brackets" in einer langen Passage, die man als erfüllte Leere bezeichnen könnte: Der Klavierklang wird fast auf Null reduziert, und ans Ohr dringen entfernte Geräusche, die man gerade noch erahnen kann.

Selbstverständlich - und hier kommen wir zu einer wesentlichen Eigenschaft von Nicolaus A. Hubers Komponieren - ist dieses Öffnen des Konzertraums auch im weitesten Sinn politisch zu verstehen: Der Bereich der Kunst soll sich zur Wirklichkeit hin öffnen. Gegen das bürgerliche Prinzip von Kunst als einer abgeschlossenen Gegenwelt zum banalen Alltag setzt Huber eine Auffassung von Kunst, die sich in gesellschaftliche Belange einmischen, Stellung beziehen und zur Veränderung anstiften soll. Dies ist ganz im Sinne von Bertolt Brecht und Hanns Eisler, aber auch des sowjetischen Filmemachers Eisenstein. Sie alle setzten das Postulat einer politischen Kunst auf beispielhafte Weise in ihre Praxis um. Weit entfernt vom Inhaltismus des klassischen sozialistischen Realismus begann Huber um 1970 mit dialektischen Formen einer politischen Musik zu experimentieren. Politische Inhalte sollten sich in der Wahl und Behandlung des Materials, in Struktur, Semantik und Syntax des Kunstwerks niederschlagen, tradierte Wahrnehmungsweisen damit in Frage gestellt, der Hörer zum kritischen Denken und Handeln angeregt werden.

Der Begriff des Materials meint dabei keineswegs nur das Klangmaterial, sondern bezieht, wofür das Klavierstück "Beds and Brackets" ein Beispiel ist, auch die körperliche Aktion des Interpreten mit ein - das Verhältnis von Körperlichkeit und Tonproduktion. Im Hinblick auf das serielle Parameterdenken, dem er bis heute verpflichtet ist, spricht der Komponist auch von "Menschenklangfarbe": Wenn man einem Interpreten Aufgaben stellt, die ihn so beanspruchen, dass er sein technisches Knowhow nicht mehr beherrscht, dann, so Huber, öffnet er sein Inneres, die Tonproduktion entgleitet ihm: "Man schaut in den Menschen hinein wie in ein offenes Buch. Was er macht, ist nicht wiederholbar, das gehört nur ihm selbst. Bei einem andern Interpreten ist alles wieder ganz anders."

Eine solche Auffassung geht über die Vertonung politischer Parolen weit hinaus; sie faßt den Menschen in seiner Ganzheit und bezieht über den Weg physiologischer Vergänge auch seine Innenwelt mit ein, bis hin zu den verborgenen Bewußtseinsschichten. Das ist verwandt dem ästhetischen Denken Luigi Nonos, bei dem Huber in den sechziger Jahren kurze Zeit studierte und der ihn nachhaltig beeinflußte. Doch Kunst als Spiegel des menschlichen Inneren und zugleich Schauplatz gesellschaftlicher Konflikte - das ist eigentlich überhaupt keine spezifisch linke Errungenschaft, sondern die Position fortschrittlicher bürgerlicher Musik seit Beethoven und Schumann. Huber, inspiriert durch Eislers Überlegungen zur gesellschaftlichen Rolle der Kunst, fügt dem allerdings noch etwas hinzu: die Zuspitzung der Fragestellung und die Radikalisierung der künstlerischen Antworten.

Auf der Strecke bleibt dabei natürlich jener Ausdruck von Innerlichkeit, wie er sich seit Beethoven bis heute immer zäh behauptet und gerade in der Musik überwintert hat: der Ausdruck eines Subjekts, das im Medium der Musik seine Gefühle unverstellt, gleichsam in direkter Rede mitteilt. An dessen Stelle setzt Huber die kritische Reflexion von Ausdruck, die Verfremdung, das zitierte Gefühl, das dadurch zu etwas Uneigentlichem wird und dem kalten Licht des kritischen Verstands ausgesetzt wird. In der Komposition "Der Ausrufer steigt ins Innere" für Cello solo aus dem Jahr 1984 wird diese andere Sicht auf das Innere thematisiert. Der Titel spielt darauf an, daß hier versucht werden soll, die öffentliche Sprachgeste eines Ausrufers, der sich an ein anonymes Publikum wendet, nach innen zu richten. Oder mit Hubers Worten:

"Der Ausrufer (...) steigt ins Subjekt-Innere, bläht sich auf, läßt dessen Privatheit und Abgeschlossenheit zerplatzen, verwandelt die Mittel seines Metiers - Ruf, Rhythmus, Tempo - vom Neutral-Allgemeinen ins Subjekthaft-Besondere, steigt empor: nun ausrufendes Ich voller Intensität."

Ob die von Nicolaus A. Huber postulierte Bewegung des kompositorischen Gedankens von außen nach innen und, in qualitativ gewandelter Form, wieder nach außen, sich im Stück tatsächlich so abspielt, sei dahingestellt. Diese hegelianische Denkfigur kann wohl mehr als eine Metapher für den Versuch einer neuartigen Vermittlung von Innenwelt und Außenwelt betrachtet werden. Beim Hören läßt sich das jedoch nicht einfach als eine Art Programm nachvollziehen.

Das ist eine charakteristische Eigenschaft praktisch aller Stücke von Huber: Im Hintergrund der Klanggestalt steht ein differenziertes und oft recht abstraktes Gedankengeflecht, das zwar diese Klanggestalt auf charakteristische Weise affiziert, aber letztlich doch eine autonome gedankliche Ebene darstellt, die parallel dazu existiert. Analytische Rückschlüsse von der musikalischen Erscheinung auf das ihr zugrunde liegende generative Programm sind nur sehr begrenzt möglich. Eine zumindest umrißhafte Kenntnis der generativen Idee eines Werks ist beim Hören von Hubers Musik zweifellos nützlich, denn diese lebt ja zu einem nicht geringen Teil gerade aus der intellektuellen Auseinandersetzung, die sie anstößt. Sie verweigert eine rein gefühlsmäßige Identifikation. Der Klang als solcher ist irrelevant. Interessant wird er erst durch die historischen und politischen Implikationen, also durch den außermusikalischen Bedeutungszusammenhang, in dem er steht. Das heißt nicht, daß Huber der klanglichen Physiognomie zu wenig Aufmerksamkeit schenken würde. Im Gegenteil, er arbeitet die materiale Beschaffenheit, die Kanten, Farben und Oberflächen eines musikalischen Ereignisses mit größter Präzision heraus. Durch das exakte Timing im Formverlauf und die markanten Pausen erhalten diese Ereignisse die Qualität eines genau umrissenen Objekts, vergleichbar der Strömung der Hard-Edge-Malerei in der bildenden Kunst vor über 30 Jahren. Nicht umsonst trägt die fünfte seiner sechs Bagatellen für Ensemble und Tonband (1981/82) den Titel "A Hard-Edged Adagio". Der Komponist bezeichnete sie als eine Kette von Klangblock-Ereignissen, die sozusagen rechtwinklig aneinandergereiht seien.

Hubers kompositorische Präzisionstechnik hat stets den Zweck, den inhaltlichen Gedanken so scharf wie möglich heraus zu arbeiten. Darin ist er, bei aller Nüchternheit und Sachlichkeit, ein später Nachfahre des deutsch-österreichischen Expressionismus in der Musik.  Auch für Schönberg lag die Legitimation des Werks im dahinterliegenden Gedanken und in der Stringenz, wie dieser im musikalischen Material zum Ausdruck gebracht wird.

"Bagatellen" - der Titel dieses kleinen Zyklus erinnert nicht von ungefähr an Beethoven. Huber knüpft mit den Stücken ganz bewußt an ihn an, und auch hier wieder: nicht als affirmative Übernahme bewährter Muster, sondern in kritisch-dialektischer Weise. Hubers Kollege Mathias Spahlinger hat in seiner Analyse der Bagatellen darauf hingewiesen, daß Beethoven diese Kleinformen schrieb, um dem Zwang der großen Form zu entrinnen, die gerade aufgrund ihrer großen Architektur immer auch etwas Scheinhaftes, Falsches besitzt. Spahlinger kommt zu einer treffenden Formulierung: Wer Bagatellen schreibe, mache Ernst mit einer gewissen Distanz vom Ernst; Huber habe mit dieser Absage an den Zwang zur Funktionalität ebenso Ernst gemacht wie Beethoven und musikalische Gedanken formuliert, die nicht mehr "für anderes" stünden, sondern ihre Form selbst erfinden würden.

Daß diese sechs kurzen Stücke für Huber auch in seiner kompositorischen Entwicklung einen wichtigen Schritt in Richtung Befreiung von formalen Zwängen und Fremdbestimmtheit darstellen, hat er selbst gesagt. Damit hängt zusammen, daß er seine Bagatellen Dieter Schnebel widmete. In einem Gespräch mit dem Musikologen Frank Sielecki (Pfau-Verlag Saarbrücken) sagte Huber 1998 rückblickend über den Eindruck, den Schnebel damals auf ihn machte:

"Das war für mich damals nicht einfach nur jemand, der jetzt plötzlich auf sich horcht und früher das nicht gemacht hat, sondern es zeigte sich mir eine Art Ichstärke, Ichsubstanz oder Ichbewußtsein, das aus sich heraus funktionieren kann, wenn man 'es' einfach gehen, noch besser: kommen läßt, und nicht irgendwelche ideologischen, stilistischen oder avantgardistischen Tabus und Grenzen setzt."

Im Jahrzehnt vor den Bagatellen, in den siebziger Jahren, hatte Nicolaus A. Huber das politische Komponieren bis in die Randgebiete ausgekundschaftet und sich dabei auch nicht gescheut vor einer Reduktion der Musik auf nackte Funktionalität, ähnlich wie es Eisler ein halbes Jahrhundert zuvor in Berlin mit seinen Kampfliedern gemacht hatte. Mit der "Politrevue 76" in der Art eines stilisierten Straßentheaters wagte sich Nicolaus A. Huber 1976 erstmals auf die Äste einer strikt funktionalen politischen Musik hinaus. An insgesamt vier solcher Unternehmungen beteiligte er sich bis 1980 - mit unterschiedlichem künstlerischem Erfolg. Mit papiernen Dialogen und Zeigefingermoral prognostizierten die Textautoren den Sieg von Revolution und Sozialismus, und der Komponist schlug sich wacker, um mit einer Musik voller Haken und Ösen das ideologische Plansoll einigermaßen zu konterkarieren.

Diese Politrevuen waren für Huber nach eigenem Bekunden keine hundertprozentigen kompositorischen Produkte, doch sie waren ein Experimentierfeld und bildeten ein Lernpotential, das er in den konzertanten Werken jener Jahre mit großen Nutzen anwenden konnte. In Songs zu den Revuen hatte er praktiziert, was Hanns Eisler als Zurücknahme bezeichnet hatte, nämlich der Verzicht auf ästhetisch avancierte Positionen zugunsten einer breiten Verständlichkeit.

In den folgenden Werken münzte er diese Zurücknahme um in eine radikale Reduktion der Musiksprache und der Mittel; er tat dies jedoch nicht zum Zweck einer allgemeinen Verständlichkeit, sondern mit der Absicht einer Radikalisierung der musikalischen Ausdrucksweise. Es entstand nun eine lange Reihe von Rhythmuskompositionen, in denen Huber die Parameter reduzierte zugunsten einer raffiniert ausgearbeiteten rhythmischen Faktur. Die verwendeten Rhythmen basierten oft auf elementaren Modellen. Doch in der Art ihrer Verarbeitung waltete ein hellwacher kompositorischer Verstand. In einem Stück für solistische kleine Trommel verarbeitete er einige Rhythmen aus seiner Politrevue 76 zu einer konsequent einstimmigen Rhythmuskomposition von einer Viertelstunde Dauer. Der Titel, "Dasselbe ist nicht dasselbe", verweist auf die Dialektik von Text und Kontext: Ein Rhythmus verändert seine Bedeutung je nach dem Umfeld, in dem er gespielt wird. Er stellt in der Politrevue etwas anders dar als im Avantgarde-Konzert.

Der Antihedonismus, der allen Stücken von Nicolaus A. Huber innewohnt, hat hier einen Extremwert erreicht. Diese konsequente Reduktion macht aus seiner Musik eine besondere Spielart des Minimalismus - Minimalismus allerdings nicht verstanden im Sinn der repetitiven Patterns, wie sie die Amerikaner in den siebziger Jahren entwickelten, sondern als eine europäische Variante, in der die strukturalistische Orientierung und das Parameterdenken der Nachkriegsavantgarde aufgehoben sind. Ein ähnlicher Fall ist das Oboenstück "Vor und zurück" aus dem Jahr 1981. Der Grundrhythmus von drei Tönen, auf dem das ganze Stück aufgebaut ist, stammt aus der 13. Diabelli-Variation von Beethoven. Daraus werden alle Proportionen im Detail und im Ganzen abgeleitet, und darüber lagert sich ein anderer Prozeß, der sich aus den Artikulationsformen des Spielers ergibt.

Eine Vorliebe für Extremlagen hatte Huber schon immer, seien es Extremlagen der Lautstärke, Klangfarbe oder Register im einzelnen Werk, seien es solche der Konzeption. Der 1939 in Passau geborene Komponist hatte in München erst bei Günter Bialas studiert, bevor er dann bei Josef Anton Riedl im elektronischen Studio arbeitete und sich seiner "Gruppe für neue Musik München" anschloß, die mit Experimenten zwischen Musik, Film, Licht, Happening und Performance in den frühen siebziger Jahren für Aufsehen sorgte.

In jener Zeit kam es mit dem Orchesterstück "Harakiri" zu einer reduktionistischen Aktion besonderer Art. Das Stück hat Aufführungsgeschichte gemacht. Nicht durch die Art, wie es gespielt wurde, sondern weil es überhaupt nicht gespielt werden sollte. Der dornenvolle Weg von der Auftragserteilung über die Partiturablieferung bis zur Verweigerung der Uraufführung im Süddeutschen Rundfunk Stuttgart ist in dem gerade bei Breitkopf & Härtel erschienenen Band der Schriften von Nicolaus A. Huber vollumfänglich dokumentiert. Bei der heutigen Lektüre kann man sich das Lachen nicht verkneifen, wenn man liest, wie hier ein auf den Werkbegriff der klassischen Avantgarde pochender Radiomann, eine anerkannte Koryphäe seines Fachs, Hubers Partitur jeglichen Wert abstreitet. Er wirft dem Komponisten vor, es sich mit seiner reduktionistischen Partitur zu bequem gemacht zu haben. Dieser jedoch sieht in der Negierung von Struktur und prozesshafter Dynamik eine politische Qualität. Er schreibt:

"Lohnt der Aufwand eines Crescendos? Crescendopraxis steckt in Krieg und Frieden, in Arbeit und Erholung, im Morden und Schonen, in Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, in Unterdrückung, in Stimmungen, in Freude, im Zugrunderichten. Crescendi sind nicht wertfrei. Musik verheimlicht ihre Gefährlichkeit, mystifiziert ihren Gebrauch."

Der gereizte Briefwechsel zwischen Komponist und Auftraggeber beißt sich schließlich an einem vom Tonband zugespielten Donnerschlag fest. Der an Adorno geschulte Auftraggeber wirft Huber einen falschen Naturbegriff vor: Natur sei ästhetisch nur in ihrer Negation zu retten, nicht durch den Positivismus eines Donnerschlags, worauf Huber antwortet:

"Das Stück ist keine Flucht, es fordert Harakiri. Je weniger uns Harakiri abnimmt, je mehr es uns auferlegt, desto besser ist es. Es darf nichts im Stück ausgetragen werden! Wird im Kapital von Marx die Revolution ausgetragen? Wozu also Natur 'retten'? Der Donnerschlag ist dialektisch, doch nicht positivistisch, wo wären sonst seine listigen Beziehungen?"

Daraufhin verkündet der aufgebrachte Radiomann aus Stuttgart die Absetzung der Stücks. Die Uraufführung sollte dann ein halbes Jahr später in Darmstadt erfolgen.

Reduktion auf sprachliche Minimalgestik, das Vermeiden jeder Art von musikalischer Selbstverständlichkeit und eine Skepsis gegenüber dem unreflektierten Ausdruck prägen das Werk Nicolaus A. Hubers von den frühen siebziger Jahren bis heute. In seiner politischen Ausrichtung haben sich jedoch seit etwa einem Jahrzehnt subtile Veränderungen vollzogen. Nicht daß er angesichts der verbreiteten Ratlosigkeit, wie es nun weitergehen könnte, zum Renegaten geworden wäre. Aber er hat nicht mehr die große Weltrevolution im Blick, sondern seinen Radius auf den Nahbereich reduziert. Ein Potential des Widerstands gegen gesellschaftliche Normierungstendenzen sieht er heute noch in querständigen Kleinstrukturen, im Eigensinn des individuellen Lebens. Das Ich, das in den Bagatellen Anfang der achtziger Jahre ins Blickfeld gerückt ist, wird aufgewertet. In seinen Partituren schlägt sich das in einem größeren Reichtum an Gestalten und Sprachgesten nieder. Vorwärts geht es nach wie vor, nur vielleicht mit unbekanntem Ziel. "Go ahead", Musik für Orchester mit Shrugs, nannte er schon 1988 eine Raumkomposition für im Raum verteilte Orchestergruppen. "Shrugs" bedeutet Achselzucken, hat aber auch etwas zu tun mit abschütteln. Huber stand damals an der Schwelle zum 50. Lebensjahr. Die Widrigkeiten abschütteln und weitergehen: dem Grundsatz ist er auch über ein Jahrzehnt später nicht abtrünnig geworden.

© 2001, Max Nyffeler

Der Text basiert auf dem Manuskript zu einer Sendung im Schweizer Radio DRS vom 31. Januar 2001.

Literatur

Nicolaus A. Huber, Durchleuchtungen. Texte zur Musik, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 2000, 426 S.
Nicolaus A. Huber/Frank Sielecki, Politisches Komponieren. Ein Gespräch, Saarbrücken: Pfau, 2000, 26 S.
Frank Sielecki, Das Politische in den Kompositionen von Helmut Lachenmann und Nicolaus A. Huber, Saarbrücken: Pfau, 2000, 187 S.

Komponisten: Portraits, Dossiers

 

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