Olga Neuwirth: Morphologische Fragmente

Von Björn Gottstein

"Man muss ja meistens von etwas Einfachem ausgehen, damit es dann voller und voller, dichter und dichter wird. Bis es einen bestimmten Dichtheitsgrad erreicht und man eigentlich nicht mehr weiter kann. Diesen Punkt gibt es, und man erreicht ihn. Auch eine Pflanze, die man in einen Topf gibt, schlägt Wurzeln um Wurzeln. Irgendwann ist unter der Erde kein Platz mehr, und dann kommen sie oben raus. Das heißt, es beginnt einfach und wird komplex. Das ist ein Prozess in der Zeit." So beschreibt Olga Neuwirth ihr Kompositionsverfahren, und man möchte hinzufügen: Es ist ein zutiefst musikalischer Prozess. Olga Neuwirth versteht es, Musik wachsen zu lassen. Wie eine Pflanze, ein Kristall. Schlimmstenfalls wie ein Geschwür.

Die Morphologischen Fragmente für Sopran und Ensemble entstanden im "Goethe-Jahr" 1999. Damals wurde die österreichische Komponistin mit einem Werk beauftragt, dem Texte des deutschen Dichters zu Grunde liegen sollten. Olga Neuwirth entschied sich zunächst für Ausschnitte aus Goethes Morphologie, was sie wie folgt begründet: "Das einzige, was mich immer an Goethe interessiert hat, sind seine Versuche, auf die zu letzten Dinge zu stoßen. Das findet man vor allem in der Morphologie oder in seiner Zoologie. In Goethes Beschreibungen biologischer Prozesse, in seinen Beschreibungen der Pflanzen, ihrer Regenerations- und Erweiterungsprozesse fand ich eine Analogie zu meiner Art zu denken, etwa wenn ich über Rhizome gesprochen habe."

Regeneration und Ausdehnung, Verwurzelungen und Verästelungen: die Musik von Olga Neuwirth gedeiht wie in einem Gewächshaus. Sie treibt große, schwer duftende Blüten. Oder sie verwandelt sich in ein dunkles, ahnungsvolles Dickicht. Die Titel ihrer Stücke lauten: La vie … ulcerante: "Das Leben – wuchernd", oder Lonicera Caprifolium, nach der wild wuchernden Schlingpflanze, dem Gartengeißblatt.

"Man kann eine Textur erzeugen – im Untergrund wuchernde Strukturen. Das mache ich auch, wenn ich Noten schreibe. Aber dieser Prozess kann sich verselbständigen. Man kann dieses Wuchern weiter und weiter treiben. Es könnte auch einfach ständig wuchern. Die Frage, die sich stellt, ist, wann ist der Punkt, wo das Wuchern aus ist. Ich verfolge mein selbst entwickeltes System des Wucherns, das allerdings jedesmal anders ist. Ich arbeite ja nicht mit einem vorgefertigten System. Wann kann ich das Wuchernde abschneiden? Und was ist aber nach dem Abschneiden? Das sind einfach interessante Prozesse. Oder: Wie kommt man aus einem Prozess in einen anderen – gewalttätig oder langsam?"

Wiederholt vergleicht Neuwirth ihre Kompositionstechnik mit einem Rhizom. Die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattarri hatten das Rhizom zu Beginn der achtziger Jahre in ihre Ästhetik eingeführt, um Zusammenhänge zu beschreiben, die sich nicht auf regelmäßige Strukturen und Hierarchien zurückführen lassen. Der Begriff Rhizom stammt ursprünglich aus der Biologie. Die Biologie versteht unter einem Rhizom eine Pflanze, die ohne Anfang und Ende, ohne oben und unten verwächst – etwa ein Knollengewächs. Für Deleuze und Guattarri sollte die Beschreibungskategorie Rhizom vor allem das schematische Denken in Baumstrukturen ablösen: "Im Unterschied zu Bäumen oder ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen beliebigen Punkt. Rizomorph sein bedeutet, Stränge und Fasern produzieren, die so aussehen wie Wurzeln oder sich vielmehr mit ihnen verbinden, indem sie in den Stamm eindringen, selbst auf die Gefahr hin, dass ein neuer, ungewöhnlicher Gebrauch von ihnen gemacht wird. Wir sind des Baumes überdrüssig geworden. Wir dürfen nicht mehr an Bäume, an große und kleine Wurzeln glauben. Wir haben zu sehr darunter gelitten. Die ganze baumförmige Kultur beruht auf ihnen. Von der Biologie bis hin zur Linguistik. Schön, politisch und liebevoll sind nur unterirdische Stränge und Luftwurzeln, der Wildwuchs und das Rhizom." (Deleuze/Guattarri: Tausend Plateaus)

Olga Neuwirth musste den Begriff Rhizom nicht für die Musik aufbereiten. Deleuze und Guattarri entwickelten ihre Vorstellungen gerade anhand von Beispielen aus der Musikgeschichte: "Anders als bei einer Struktur, einem Baum oder einer Wurzel gibt es in einem Rhizom keine Punkte oder Positionen. Es gibt nur Linien. Wenn Glenn Gould die Tempi eines Stückes schneller spielt, ist das nicht nur virtuos; er verwandelt dabei die musikalischen Punkte in Linien, er lässt das Ganze wuchern." (Deleuze/Guattarri: Tausend Plateaus). Und mit einem Verweis auf Pierre Boulez merken sie an: "Die Musik hat ihren Fluchtlinien schon immer freien Lauf gelassen: als lauter 'transformierende Mannigfaltigkeiten'. Deshalb ist die musikalische Form, bis in ihre Brüche und Wucherungen hinein, dem Unkraut vergleichbar, ein Rhizom." (Deleuze/Guattarri: Tausend Plateaus)

Olga Neuwirth hat das Konzept des Rhizoms als ein durch und durch musikalisches Konzept verstanden. Und sie hat gelernt, es mit Virtuosität zu handhaben. Damit sind andere Bedeutungsebenen ihrer Musik nicht ausgespart. Im Gegenteil gestatten es ihr die rizomorphen Verästelungen, entlegene Enden miteinander zu verknüpfen: In Pallas/Construction zerschellt der futuristische Asteroiden-Roman von Paul Scheerbart an einem Ländler aus der Steiermark. Das Drogendelirium von William S. Bourroughs unterlegt sie mit der beklemmenden Aura eines Science Fiction-Soundtracks – so in Nova/Minaud. In Five Daily Miniatures schließlich zerbröckelt der barocke Glanz eines Countertenors über lyrischen Alltäglichkeiten von Gertrude Stein.

Zu Olga Neuwirths Mentoren zählen unter anderem Adriana Höszky, Tristan Murail und Luigi Nono. Sie empfing wesentliche Impulse aber auch von der Schriftstellerin Elfriede Jelinek, mit der sie freundschaftlich verbunden ist und die sich bereits mehrfach als Librettistin für Neuwirth engagiert hat. Wie Jelinek versteht es auch Neuwirth, Verbrauchtes und Alltägliches in ungewohnten Zusammenhängen wiederzubeleben. Dabei verliert man in früheren Werken leicht die Orientierung. Umso mehr als rasante Schnitte und undurchsichtige Montagen dem Hörer kaum Halt bieten. In den Morphologischen Fragmenten nun kehrt die Komponistin etwas Unerwartetes heraus: die Ruhe. "Die Morphologischen Fragmente waren ein Versuch, auf einem Punkt zu verweilen. Und vielleicht war da Venedig ein guter Ausgangspunkt, denn in Venedig kommt und ist nichts. Es ist immer das gleiche. Es zerfällt zwar langsam. Aber es gibt dieses ständige Schwappen des Wassers. Es ist immer der gleiche Himmel. Und so habe ich versucht, einfach mal auf einem bestimmten Punkt zu verweilen, weil das nie von wirklicher Bedeutung in meiner Musik gewesen ist. Der Gedanke an das Verweilen."

Olga Neuwirth lebt in Venedig. Da liegt der Griff zu Goethes Italienischer Reise nahe. Durch die gesamte Partitur der Morphologischen Fragmente ziehen sich kurze Auszüge aus dessen Berichte über Venedig. Diese Texte werden allerdings nicht von der Sopranistin vorgetragen; sie bleiben den Ausführenden zur stummen Lektüre vorbehalten. "Als ich bei hohem Sonnenschein durch die Lagunen fuhr und auf den Gondelrändern die Gondeliere, leicht schwebend, buntbekleidet, rudernd, betrachtete, wie sie auf der hellgrünen Fläche sich in der blauen Luft zeichneten, so sah ich das beste, frischeste Bild der venezianischen Schule. Der Sonnenschein hob die Lokalfarben blendend hervor, und die Schattenseiten waren so licht, dass sie verhältnismäßig wieder zu Lichtern hätten dienen können. Ein gleiches galt von den Widerscheinen des meergrünen Wassers. Alles war hell in hell gemalt, so dass die schäumende Welle und die Blitzlichter darauf nötig waren, um das Tüpfchen aufs i zu setzen." (Goethe: Italienische Reise)

Zwei Wochen lang besichtigte Goethe Venedig. Derart ins Schwärmen geriet er dabei selten. Die klassischen Meisterwerke der Architektur, die seine Vorgänger noch begeistert hatten, entlockten dem Italienreisenden Goethe meist wenig mehr als einen nüchternen Kommentar. Heute schätzt man genau das an der Italienischen Reise: dass Goethe seine Erfahrungen mit der Verve eines Stempels der Prägung 'sachlich richtig' versieht. Auch Olga Neuwirth ist weit davon entfernt, Venedig zu verklären. Die Koppelung von Texten über Venedig und über das Spiralsystem der Pflanzen bringt vielmehr eine kreatürliche Seite der italienischen Stadt ans Licht.

"Ich habe auf Ausschnitte aus der Morphologie zurückgegriffen und dazu, weil ich zur Zeit in Venedig lebe, auf seine wirklich wunderschönen Texte über die Lagunenstadt Venedig aus der Italienischen Reise. Dadurch hatte ich auch schon zwei Text-Topographien, anhand derer ich dann Klangtypen gestaltet habe. Und diese Klangtypen sind einerseits verschieden, andererseits ähneln sie sich auch. Das Ausbreiten von Pflanzen unter der Erde, dieses Sich-Weiterhangeln, hat auch etwas zu tun mit diesen immer wiederkehrenden und sich anhäufenden Wellen, die in Venedig gegen irgendwelche Häuser platschen. Und dann gibt es da noch dieses Echo. Also in Venedig weiß man oft nicht mehr, wo sich eigentlich die Quelle eines Klanges befindet. Alles wird irgendwie reflektiert. Dieses schwebende Nicht Wissen, wo man ist. Und das war sozusagen der Ausgangspunkt für dieses Stück."

Der ferne Klang, der Venedig begleitet, hatte auch Goethe begeistert: "Mit einer durchdringenden Stimme sitzt er am Ufer einer Insel, eines Kanals, einer Barke und lässt sein Lied schallen, so weit er kann. Über den stillen Spiegel verbreitet sich's. In der Ferne vernimmt es ein anderer, der die Melodie kennt, die Worte versteht und mit dem folgenden Verse antwortet; hierauf erwidert der erste, und so ist einer immer das Echo des andern. Je ferner sie also voneinander sind, desto reizender kann das Lied werden: wenn der Hörer alsdann zwischen beiden steht, so ist er am rechten Flecke. Als Stimme aus der Ferne klingt es recht sonderbar, wie eine Klage ohne Trauer; es ist darin etwas unglaublich, bis zu Tränen Rührendes." (Goethe: Italienische Reise)

Olga Neuwirth malt keine naturalistischen Porträts, die man sich schmuck über den Kaminsims hängt. Und die Morphologischen Fragmente sind kein Soundtrack zum Film 'Erinnerungen an Venedig'. Immer wieder bricht die Sopranistin mit ihren drängenden Motiven in den dunklen Flächenklang hinein, um das spiralförmige Wachstum der Musik voranzutreiben. Im Vortrag der wissenschaftlichen Texte tritt gelegentlich ein skurriler Humor zutage, so beim Vortrag von Fußnoten: "Siehe Reidenbach, Botanik für Damen, Seite 288".

Im Verlauf der Morphologischen Fragmente verschmelzen die echogetränkten Klänge Venedigs mit den drängenden, aufwärts strebenden Motiven, wird die Stadt selbst zu einem wildwachsendem Rhizom, das nicht nur über Kanäle und Echoeffekte auf undurchsichtige Weise verästelt ist. In dieser Musik fängt Venedig selbst an zu wuchern, um Wurzeln und Blüten zu treiben.

Vor Olga Neuwirth hatte schon Goethe die Ähnlichkeit zwischen Venedig und dem Spiralsystem der Pflanzen erkannt. Auf einer seiner Erkundungen entdeckt er "die schönste Wendeltreppe von der Welt, mit offener, weiter Spindel, die steinernen Stufen in die Wand gemauert und so geschichtet, dass eine die andere trägt; man wird nicht müde, sie auf- und abzusteigen." (Goethe: Italienische Reise)

© Björn Gottstein, 2000

Die Zitate von Olga Neuwirth stammen aus einem Interview mit dem Autor vom Dezember 1999.

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