Surrealismus und "aufgebrochenes Musiktheater"

Stefan Drees im Gespräch mit Olga Neuwirth über Bählamms Fest (1996/99)

Du arbeitest zur Zeit an einem Kompositionsauftrag für die Wiener Festwochen 1999. Es handelt sich dabei um eine Musiktheater-Komposition, der eine dramatische Vorlage der Schriftstellerin und Malerin Leonora Carrington (*1917) in der Bearbeitung von Elfriede Jelinek zugrundeliegt. Könntest Du die Konzeption dieses Bühnenwerkes näher charakterisieren?

Ich nenne dieses künftige Stück ein 'aufgebrochenes Musiktheater'. Es basiert auf einer Idee, die ich analog zu den Filmen von Jean-Luc Godard entwickelt habe. In einem Fernsehgespräch mit Marguerite Duras von 1990 spricht Godard davon, daß seine fertigen Filme eigentlich 'auseinandergenommene' seien. Die von Godard häufig zitierte Wahrnehmung Arthur Rimbauds, daß 'Ich ein anderer' sei, ergibt sich unmittelbar aus seinen Filmen, die auch 'immer ein anderes' sind zugleich als sie selbst, nämlich 'mehrere Filme in einem'. Ebenso handelt es sich bei meinem Stück nicht nur um eine einzige Form von Theater. So kommen etwa Slapstick-Teile mit Geräusch-Zuspielungen vor, wie in Animationsfilmen der 30er und 40er Jahre.

Schon beim Einlaß wird eines der Hauptmaterialien vorgestellt, nämlich die 'Eisinseln', wie ich sie nenne. Sie kehren im weiteren Verlauf immer wieder. Es gibt insgesamt 13 Bilder in meinem Musiktheaterstück, und diese Bilder werden gemäß des Librettotextes meistens von 'blackouts' unterbrochen. Ich habe dann aus dem 'blackout' sozusagen ein 'whiteout' gemacht. Das sind dann immer kurze Intermezzi, die 'Eis-' oder 'Schneeinseln'.

Warum dieser Name, die Verbindung mit Eis oder Schnee?

Diese 'Eis/Schnee-Inseln" sind ruhevolle Inseln im Tohuwabohu aus Küssen, Beißen und Schlagen... Winter bzw. Kälte bringt auch Alter in Erinnerung; er weist auf eine lange Vergangenheit zurück. Dazu fällt mir der Satz von Rimbaud ein: 'Es war eine Winternacht, ein Schneefall, um die Welt ein für alle Mal zu ersticken.' In der Welt außerhalb des etwas heruntergekommenen bürgerlichen Hauses, in dem das Stück spielt, verwischt der Schnee die Schritte, verwirrt die Wege, erstickt die Geräusche, maskiert die Farben ? es herrscht ein alles erfüllendes Weiß.

Die Verbindung mit Eis und Schnee hängt aber auch mit der Handlung selbst zusammen. Der Text beruht ja auf einem Theaterstück von Leonora Carrington aus dem Jahr 1940. Sie hat es geschrieben, nachdem ihr damaliger Lebensgefährte Max Ernst in ein französisches Konzentrationslager eingeliefert wurde. Das Haus der Familie in diesem Theaterstück steht in einer vollkommen fernen Landschaft, in einer heideartigen Eis-Schnee-Landschaft. Olga Neuwirth und Garth Knox Wir haben hier also schon die Entfremdung, die in dem Stück eine große Rolle spielt, die innere und äußere Kälte - in diesem 'House of Usher', bei mir 'House of Carnis', finden sadistische Eiszeitgelüste übersinnlicher Art statt. Und darum gibt es eben in meiner Musik keine 'blackouts', sondern 'whiteouts', eben die 'Eis/Schnee-Inseln'. Und so beginnt auch die Komposition: Beim Einlaß hört man nur ein elektronisches Band mit verfremdeten Glasklängen...

Also man betritt den Zuschauerraum und das Band läuft bereits?

Ja, das Band läuft schon. Es gibt so lange eine Endlosschleife, bis die Vorstellung anfängt. Und dann ist eigentlich zuerst nichts... Es gibt keinen Vorhang, sondern nur Lichterhellungen. Die erste Stufe dieser Lichterhellung besteht darin, daß man die Heidelandschaft sieht, nicht aber den Innenraum des Hauses. Und dann kommt Live-Elektronik dazu, mit Gläsern und mit dem Chor. Dieser Chor ist eigentlich kein echter Chor; vielmehr gehen die Sänger, die nicht gebraucht werden, auf die Seite der Bühne, sind vielleicht sogar als Teil des Bühnenbilds sichtbar oder singen hinter der Bühne. Sie singen immer über Mikrophone. Es sind meistens vier Solisten, aber durch die elektronischen Veränderungen kann es so klingen, als wären es mehr Stimmen. Auf diese Weise wird der Chor auch Teil der Landschaft.

Damit beginnt erst das wirkliche Stück, wenn das Publikum schon sitzt. Die Zuschauer befindet sich sozusagen auch in der Heidelandschaft. Die live-elektronisch veränderten Chor- und Glasklänge verschwinden dann über die Köpfe des sitzenden Publikums hinweg - wie das Hinwegrauschen eines Schneesturms in dieser fernen Landschaft. Dann geht das Licht richtig an, die Musik ist weg und alles beginnt wie ein Theaterstück. Die beiden Hauptpersonen Mrs. Carnis und der Hund - er ist meist elektronisch verfremdet und wird im ganzen Stück beinahe ausschließlich mit Sprechstimme eingesetzt - reden zu Beginn miteinander, und erst wenn die Hauptperson, die junge Theodora, auftritt, wird zum erstenmal gesungen.

Du sagst: die Instrumente schleichen sich allmählich ein. Welche Besetzung verwendest Du?

Es handelt sich eigentlich um ein größeres Solisten-Ensemble. Die einzigen Instrumente, die aus einer traditionellen Besetzung herausfallen und daher auch eine spezielle Bedeutung haben, sind das  Theremin[1], das meistens im Zusammenhang mit der alten Frau eingesetzt wird, sowie die E-Gitarre und das Akkordeon. Ansonsten gibt es Streicher, Bläser und zwei Schlagzeuger. Drei Instrumente werden auch live-elektronisch in den 'Eis-Inseln' verändert und in den Raum projiziert.

Und dieses räumliche Element ergibt sich auch durch die räumliche Aufstellung der Lautsprecher?

Ja. Natürlich kommt es auf die Akustik jedes Saales an, aber es ist eben so gedacht, daß schon so etwas wie eine Bühnen-Zentralperspektive existiert und nur durch die Elektronik die Musik in den ganzen Raum gebracht wird. Das bedeutet, daß das Publikum ganz in der Mitte sitzt, zwischen der Aufstellung der Lautsprecher. Damit ist es einerseits quasi außerhalb des Geschehens - vergleichbar mit der Situation einer Guckkastenbühne -, andererseits aber auch Teil des gesamten klingenden Raums. Neben diesen Lautsprechern im Aufführungsraum gibt es noch drei Lautsprecher für die Filmmusik, für die Klänge, die von ganz hinten zu kommen scheinen, von hinter der Bühne. Wie zum Beispiel in einem Film von Jacques Tati, wo er in einem Kaufhaus ist: man hört in dieser Szene ganz lang Schritte. Man sieht niemanden, man hört nur Schritte aus unendlicher Ferne, bis sie dann sozusagen auf der Bühne sind. Dafür sind diese Lautsprecher gedacht - insgesamt dreizehn im Zuschauerraum und drei bei der Leinwand.

Um beim Stichwort Film zu bleiben: Du verwendest vorproduzierte Filme?

Ja. Aber an einer Stelle wird eine Kamera die Szene live aufnehmen... Die von mir verwendeten Filme stammen von Michael Kreihsl.

Welche Funktion haben diese Filme?

Sie haben ganz unterschiedliche Funktionen. Ein Teil der Filme verwendet Erinnerungen als Element. Man sieht dann etwa, wie sich die alte Frau an ihre Kindheit erinnert. Da gibt es eine bestimmte Szene - wie in der Molnar-Verfilmung von Fritz Lang -, wenn sie sich als Kind erkennt. Da singt sie ihr eigenes Ich an, ihr Jugend-, ihr Kindheits-Ich. Das heißt es gibt auch eine Interaktion zwischen der Live-Sängerin auf der Bühne und der aufgezeichneten Sängerin. Ganz anders beim Bild mit dem großen Schafe-Abschlachten: Es beginnt mit einem Computerspiel auf der Leinwand, einem Flipper, auf dem Schafe mit einem Joystick abgeschossen werden können. Jedesmal, wenn ein Schaf von einer Flipperkugel getroffen wird, hört man 'Bäh!'. Ich benutze dies als Verfremdungseffekt, um Ironie, gepaart mit Frechheit, hereinzuholen - um dem pathetischen und oft so lächerlichen Moment des Mordens auf der Opernbühne zu entgehen... Ich finde, das paßt auch wieder zum Begriff 'aufgebrochenes Musiktheater'. Es gibt eben viele verschiedene Ebenen, die in einem gewöhnlichen Musiktheater nicht unbedingt Platz hätten, und die sich gegenseitig ironisch verfremden. Mein Ausgangspunkt ist eben ein surrealistisches Theaterstück...

Welche Bedeutung hat dieses Anknüpfen am Surrealismus für Dich?

Man kann das nicht mit besseren Worten sagen als eine Passage aus Maurice Nadeaus Buch Geschichte des Surrealismus.[2] Dort heißt es, bezogen auf André Bretons surrealistisches Manifest Qu'est-ce que le surréalisme? von 1934: 'Die surrealistische Gesinnung, d.h. die surrealistische Verhaltensweise kommt nämlich zu allen Zeiten vor, sofern man sie als die Bereitschaft auffaßt, das Wirkliche tiefer zu ergründen, ohne es damit sogleich transzendieren zu wollen, und ''sich die sinnlich wahrnehmbare Welt immer deutlicher und zugleich immer leidenschaftlicher bewußt zu machen'' (André Breton), wonach ja alle jene Philosophien trachten, die sich nicht damit begnügen, die Welt nur sein zu lassen, wie sie ist; und wonach das Herz des Menschen dürstet, ohne je gestillt zu werden.' Dies ist auch der Ausgangspunkt, der mich am Surrealismus reizt: Mit einem Märchen, vor allem einem surrealistischen Märchen - und gerade darum handelt es sich bei Leonora Carringtons Stück - kann man durch die Überhöhung noch einmal viel tiefer zur Wirklichkeit zurückkehren.

Nun ist ja die Sprache des Theaterstücks meiner Meinung nach nicht ganz unproblematisch...

Richtig, die Sprache des Theaterstück wäre im Grunde unmöglich als Sprache eines Librettos zu verwenden gewesen, weil sie auch viel zu kompliziert und blumig ist. Um diesem Problem zu entkommen, hat Elfriede Jelinek eine Schneise in den Sprachwald geschnitten und dadurch den Inhalt der Geschichte in dreizehn Bildern viel stärker herausgehoben. Sie hat alles Unnötige weggelassen, sprachlich vereinfacht, modernere Bilder und Metaphern gewählt und nach meinem Wunsch auch die Filme eingebaut; schließlich ist das Ende entgegen dem etwas undefinierbaren Ende von Leonora Carringtons Stück vollkommen verändert...

Und wie verhält sich Deine Komposition zu dieser modifizierten sprachlichen Vorlage?

Zunächst einmal gibt es ja immer das Problem: Was macht man mit den Singstimmen in einem Musiktheater? Ich wollte kein starres Musiktheater, wie es zur Zeit wohl eher üblich ist - das ist mir zu oratorienhaft: Wenn ich etwas auf die Bühne stellen darf, dann möchte ich meinem gewissen Hang zur Dramatik frönen. Dann hat man aber auch das Problem mit den Singstimmen wieder. Gegen Ende der Komposition werden beispielsweise alle Solo-Singstimmen elektronisch verfremdet. Die Hauptperson, die ermordet wird, tritt zwar als Geist auf, aber die Klänge kommen nur mehr aus einem Ghettoblaster. Sie sind mit einem Morphing-Programm verändert.

Der schöne Satz von Karl Kraus, daß nur im närrischen Märchen auf der Bühne der Gesang glaubhaft werden kann, hat mich schließlich in meinen Vorstellungen bestärkt. Ich hoffe, das wird auch so gelingen... Ich möchte eben einfach etwas machen, bei dem man stets zwischen Lachen und Weinen schwankt. In den Filmen von Godard ist das häufig so: Man kann oft lachen, weil es slapstickhaft ist, und dann wird es aber sehr ernst. Ich finde, man kann einfach darüber lachen, daß man ein Mensch ist, aber andererseits ist das Leben auch sehr traurig und trostlos. Und ich mag eben beides - den Slapstick und das Gegenteil. Es bringt mich zum Lachen, wenn Dinge zusammenkommen, die miteinander überhaupt nichts zu tun haben - das hat man schon bei Charlie Chaplin, Buster Keaton und all diesen ganzen großen Komikern -, und diese Action und Bewegungen bringen einen dann oft zum Lachen.

Also hat das Kino in dieser Hinsicht eine gewisse Vorbildfunktion für Dich.

Genau. Aber schon in Leonora Carringtons Geschichte steckt natürlich sehr viel Humor - böser und schwarzer Humor. Das war sicher ein anregender Ausgangspunkt und ein Grund für meine Wahl dieser Vorlage. Es gibt schon im Theaterstück selbst diese beiden Ebenen des Komischen und Traurigen. Es ist im Grunde sehr komisch - André Breton hat das Stück als 'érotisme comique' bezeichnet... Das Lachen ist hier der Ausnahmezustand: es steht außerhalb des Gesetzes, es zeigt den Zustand des Verbotenen. Aber das Lachen ist auch eine Widerstandshandlung gegen den Schrecken. Das Lachen in diesem Stück steht jenseits aller verbalen Ordnung. Es geht darum, daß sich die Hauptperson Theodora in eine Gestalt namens Jeremy verliebt, die halb Mensch und halb Wolf ist, um aus ihrem tristen Alltag zu entfliehen. Sie sucht das Andere in der Gestalt dieses Wolfsmenschen, aber sie scheitert auch an diesem Anderen. Dabei gerät Theodora eigentlich unschuldig in Schuld, sie läuft vor etwas weg, was wieder so aussieht wie das, vor dem sie ursprünglich geflohen ist. Zum Schluß bleibt sie dann allein auf der Bühne.

Und wie unterscheidet sich dieser Schluß vom Originalschluß des Theaterstücks?

Ich habe eben einen ganz anderen Schluß gewählt: Theodora bleibt einfach ganz allein. Sie ist ja sehr jung, und was wir - Elfriede Jelinik und ich - darstellen wollten, ist analog zu dem, was Muriel Gardiner in ihrem Buch über Sigmund Freuds erste Fallstudie, The Wolf-Man,[3] geschrieben hat: Dieser Mann war in ganz frühen Jahren in Behandlung bei Freud, mußte dann aber ohne Freud noch mit seiner Krankheit sein ganzes Leben verbringen. Und dieser Moment, daß man sehr jung ein Erlebnis haben kann und mit diesem dann weiterleben muß, spielt auch in dem Musiktheater eine große Rolle. Am Ende wird das mit einem riesengroßen Video-Morphing umgesetzt, welches zeigt, wie Theodora alt wird, während sie als Bühnengestalt davorsitzt. Sie wird aber eben nicht wahnsinnig... Wahnsinn ist dieser Nicht-Ort, dem man den Frauen meistens als einzigen Ort, als Ort von Pseudo-Hoffnungen, zugesteht. Theodora wird zwar verlassen, kann aber aus ihrem Erleben, ihrem Schmerz, ihrem verlorenen Liebesjubel vielleicht Schlüsse ziehen, um bewußt und mit realer Hoffnung und Kraft von Neuem beginnen. So haben wir einen pessimistisch-optimistischen Schluß gefunden, ein offenes Ende mit Hoffnungsschimmer...

Unterhalten wir uns doch auch einmal über die Live-Elektronik, die ja ebenfalls ein sehr wichtiges Element in Deiner neuen Arbeit spielt. Wie weit bist Du mit diesem Element der Komposition und weißt Du schon, an welchen Stellen Du welche Arten von live-elektronischen Manipulationen verwenden wirst?

Zum Beispiel diese Person Jeremy, die halb Mensch und halb Tier ist: ihre Stimme - ein Countertenor - wird an ganz bestimmten Stellen entweder manupuliert oder sie kippt durch Live-Morphing in ein Wolfsheulen um. Einmal, bevor die Schafe überfallen werden, sind es zwei Sänger, die elektronisch verfremdet werden. Es ist ein Duett zwischen Theodora und dem Wolf ? sie sind quasi in einem anderen Zustand. Dafür haben wir im elektronischen Studio in Graz Klanganalysen vom Geheul kanadischer Wölfe gemacht. Anschließend habe ich dann die komplexen Mikroglissandi dieser Tierstimmen in vereinfachte Notenschrift transkribiert. An dieser Stelle verfallen die beiden Sänger eben in ein solches Heulen und werden auch in den Raum projiziert, so daß man meint, die Wölfe im Raum heulen zu hören. Am Ende verliert Theodora - sie ist der halb menschlichen, halb tierischen Gestalt rettungslos verfallen - diesen Wolfsmenschen, weil er - als eine Art 'arktischer Vampir', als Repräsentant des Anderen, das nicht sein darf - umgebracht wird; Theodoras Stimme wird dann vollkommen live-elektronisch verändert, also mit Random-Vibratis, Akkordtranspositionen und Delays...

Gibst Du die Klangwirkungen genau vor oder spielt dabei auch die Reaktion der Interpreten auf das gehörte, live-elektronisch veränderte Material eine gewisse Rolle?

Das ist nur am Ende der Fall, wenn Theodora ganz allein auf der Bühne ist, wenn ihr Solo mit dem Video-Morphing abläuft. Dann gibt es den Chor aus dem Hintergrund und sie selbst. Da wird es so sein, daß sie einige Minuten Zeit hat, mit dem Material - das wird nicht viel sein, weil die Live-Elektronik an sich schon eine komplexe ist - zu arbeiten. Das ist eigentlich das einzige Mal, wo es zu solch einer Reaktion kommt. Ansonsten ist die Live-Elektronik immer abhängig vom Notentext. Alle elektronischen Veränderungen für die Sänger sowie die Spatialisation werden vom Elektronischen Studio in Graz realisiert.

Greifst du auch gezielt in die Instrumentalklänge ein?

Wie gesagt gibt es in den 'Eis-Inseln' immer Live-Elektronik. Drei Instrumente werden verändert, außerdem die Gläser der beiden Schlagzeuger, auf die kommt ein Multiflanger. Dadurch entsteht ein glissandierendes Klangband, das sich dem Sound des Theremin annähert. In den höheren Lagen klingt das Theremin ja wie eine menschliche Stimme, während es auf der anderen Seite auch einen heulenden Klang erzeugen kann... Dazu kommt noch die verstimmte E-Gitarre mit einer Skordatur, dadurch entsteht ein komplexes harmonisches Feld allein schon durch ganz kleine Begebenheiten.

Du zitierst in deiner Arbeit nicht nur filmische Techniken, sondern beziehst Dich - mehr oder minder offen - auch auf zahlreiche musikalische Quellen. Ich habe ein Buch mit den Liedern des jiddischen Liedkomponisten und -dichters Mordechaj Gebirtig gesehen: Wie verwendest Du dieses Material beim Komponieren?

Da muß ich ein wenig ausholen: Eine der umfangreichsten und längsten aller dreizehn Szenen - die Dauern der einzelnen Bilder sind sehr unterschiedlich - ist die Szene im Kinderzimmer. Olga NeuwirthTheodora geht immer ins Kinderzimmer zurück, als Erinnerung an die Kindheit und auf der Suche nach Freiheit und Spiel, also zurück in eine Phase, in der man relativ frei leben konnte; dort begegnet sie auch zum erstenmal dem Wolf. Ich habe Spieluhr-Melodien genommen, die elektronisch verfremdet und per Band zugespielt werden. Sie wirken dadurch ganz schrill und symbolisieren so die zerstörte Kindheit. Als einzige Momente, die in dieser Situation sozusagen eine gewisse Art von Hoffnung vermitteln und damit in Gegensatz zum Terror und zum brutalen Äußeren stehen - Theodora flüchtet ja auch zu ihrem Schutz ins Kinderzimmer -, zitiere ich zwei fragmentierte jiddische Kinderliedmelodien von  Mordechaj Gebirtig[4]: Sie tauchen aus all diesen verschiedenen Überlagerungen schattenhaft auf - als Symbol für eine durch äußerste Brutalität für immer zerstörte Welt, sowie als Widerspiegelung des Zeitbezugs, nämlich 1940, also dem Jahr, in dem das Theaterstück entstanden ist, in dem aber auch gleichzeitig Krieg in Europa herrschte, die Gewalt sich also schon häuslich niedergelassen hatte. Durch die eine Melodie, Huljet, huljet kinderlech, kolsmar ir sent noch jung, wajl fun friling bis zum winter is a kaznsprung, und einer anderen, in der die süßen Kinderjahre besungen werden, die ewig in Erinnerung bleiben, soll eine gewisse Art von Hoffnung als Gegensatz zur Barbarei und zur brutalen Außenwelt vermittelt werden. Obwohl die Wahl zweier Kinderlieder von Gebirtig im Grunde ein Paradoxon darstellt, weil ja gerade die Kultur des osteuropäischen Judentums durch Terror zerstört wurde, hoffe ich, daß diese beiden Melodien durch ihre Klarheit und Zartheit der musikalischen Umgebung eine zerbrechliche Schönheit verleihen.

Es ist aber nicht das einzige Zitat. Auch das Theremin wird an einer Stelle etwas zitieren. Da weckt wohl insbesondere der 'sentimentale' Klang dieses elektronischen Instruments konkrete Assoziation und verweist auf Vergangenes.

Ja, das passiert im zehnten Bild, wo der alten Frau sie selbst als schlimmes, zerstörungsfreudiges Kind erscheint und damit ihre Kindheit vergegenwärtigt wird. Sie war ein brutales Kind, sie hat all ihre Tierchen im Kinderzimmer umgebracht - also auch die brutale Welt des Kinderzimmers kommt hier vor. Diese getöteten Goldfische und Katzen tauchen noch einmal als Gespenster auf und rufen Theodora ins Reich der Toten. Und in einer späteren Szene - es ist wie gesagt etwas verwirrend, es ist ja eben ein surrealistisches Theaterstück - sagt sie: 'Ich höre eine Musik, die kenn' ich doch', bevor ihr Erinnerungsfilm abläuft. Da möchte ich als Zitat eine Melodie von  Henryk Wieniawski[5] bringen - sie klingt unheimlich schön auf dem Theremin. Und sie färbt diese Szene auch ein, weil es Musik aus einer anderen Zeit ist - man wird es sicher heraushören, die Stelle fällt einfach aus dem üblichen Klanggeschehen heraus.

Deine gesamte Konzeption erscheint mir - auch in Abhängigkeit zum Text - äußerst komplex zu sein. Überforderst Du damit nicht auch den Zuschauer?

Wahrscheinlich, aber ich glaube, man soll nicht versuchen, dieses Stück inhaltlich vollkommen verstehen zu wollen. Darum besteht es auch aus Bildern, aus Eindrücken. Es geht letztlich um surrealistische Tableaus...

Du spielst also mit Assoziationen.

Ja, es gibt zwar schon so etwas wie einen roten Faden, eine Geschichte, die bis zum Schluß durchgeht: Es handelt sich eigentlich um eine sadistische Familiengeschichte in skurril-surrealen Momentaufnahmen. An diesem abgeschiedenen Ort sind sich die Personen nah und doch grausig fremd. Das ist komisch, tragisch, zärtlich, schrill und schräg. Es taucht dieser Wolfsmensch Jeremy auf und Theodora glaubt, dies sei ihre Fluchtmöglichkeit vor ihrem ersten Mann, der immer nur trinkt; sie meint, sie käme aus dieser Wüste heraus durch dieses Andere. Das ist typisch für unsere Zeit, in der jeder etwas anderes sucht, und dabei läuft man meistens wieder dem gleichen nach. Theodora scheitert auch daran, daß Jeremy immer von ihr verlangt, sie müsse schön sein - das ist ja auch wieder der Wahnsinn am Ende des 20. Jahrhunderts: dieser irre Schönheitskult, man muß jung und schön sein. Und das sagt er ihr auch ständig. Er wird umgebracht, und wenn er dann als Geist noch einmal zu ihr zurückkommt, weist er sie nochmals darauf hin, daß er sie nicht an den anderen Ort mitnehmen kann, da sie nicht jung und schön bleiben wird. Das ist schon sehr kraß, also diese Aussagen versteht man sicher.

Der Zuschauer scheint also - um den Blick einmal aufs Ganze zu richten - richtig "multimedial" überwältigt zu werden.

Ja, das wird mir sicher vorgeworfen werden, sicherlich. Das Wort 'multimedial' stört mich aber in diesem Zusammenhang. Denn was ich eben wirklich möchte, das ist: einen Eindruck vom Ende unseres Jahrhunderts zu geben. Daher ist das Stück auch eine Art Rückschau und Vorschau zugleich: Ich benutze das Theremin, ich verwende Filme und ein traditionelles Ensemble, ich habe die Live-Elektronik, ich habe eine Bühne und die Sänger - unter anderem auch einen Countertenor. Es ist schon eigenartig, am Ende des Jahrhunderts ein Musiktheater zu schreiben, was soll man nur machen? Die instabile Form der 13 Bilder, aber auch das Stürzende, Flächenhafte und Schwebende erlauben ja einerseits ein Schweifen der Phantasie, andererseits vermitteln sie aber auch den Alptraum. Der dargestellte musikalische Raum entspricht keinem realen Raum... Aber dem gewissen 'panischen Schrecken' des Stücks entspricht vielleicht die Instabilität des Untergrundes, das Weglose, das Wegrutschen in den Abgrund am Ende des 20. Jahrhunderts... Und als Bühnenbild stelle ich mir einen überdimensionalen, ziemlich leeren und kahlen Raum vor. Etwa in der Art wie das Kinderzimmer in Ray Bradburys Erzählung The Veldt[6] das die telepathischen Gedankenströme der Kinder auffängt und Leben schafft, um alle ihre Wünsche zu erfüllen. So braucht man keine Doppelung von Außen- und Innenraum, da der Innenraum durch geistige Vorstellungen auch gleichzeitig zum Außenraum wird. Außen und Innen werden eins...

Es gibt ja seit den siebziger Jahren viele Beispiele dafür, daß Komponisten versuchen, reine 'Literaturopern' im Sinne von Alban Bergs Wozzeck (1917/22) zu schreiben. Man braucht sich ja nur Hans Jürgen von Boses Machwerk Schlachthaus Nummer Fünf (1995/96) anzuschauen...

So etwas interessiert mich überhaupt nicht! Aber ich gelte sicher nicht als zeitgemäß, denn zeitgemäß ist meiner Meinung nach jetzt, daß es eben kein Theaterstück als Vorlage gibt. Man denke dabei etwa an Dieter Schnebels Majakowskis Tod (1992/98) oder an Beat Furrers Narcissus (1994)... Viele Komponisten fragen nach ewig gültigen Aussagen. Darum greifen ja einige auch zu Heiner Müller, weil sie durch seine modernen Texte etwas über die ewigwährenden Probleme der Menschheit aussagen wollen. Aber ich wollte wirklich ein zeitgenössisches Stück - Leonora Carrington lebt heute noch in New York. Ich will eben zeitgenössische Literatur von jetzt lebenden Autoren verwenden, die sich nicht auf die Antike beziehen. Es hat viel mit unserer Zeit zu tun: Wie sehen Schriftsteller unsere Zeit heute? Daher wähle ich aus meiner Perspektive heraus Literaten, die mich ansprechen und unsere Zeit repräsentieren.

In Deinem Konzept glaube ich gewisse Parallelen zu Helmut Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern (1990/96) zu erkennen...

Das Märchen - ja, und da verstehe ich ihn gut. Auch eine kritische Aussage, wie er sie vermittelt, kann man über das Märchen machen. Es ist ein wunderbares Werk, aber Lachenmann hat absichtlich keine werküberspannende Erzählstruktur mit Dramatik darin. Bei mir gibt es dagegen eine gewisse Art von durchgehendem Strang, eine Geschichte, die beschreibt, was mit Theodora passiert. Das war mir auch wichtig. Meine Hauptperson ist eben Theodora. Dennoch wird nicht wirklich eine Geschichte erzählt, weil das Stück in die vielen surrealistischen Tableaus mit komplizierten Inhalt geteilt ist...

Gibt es für die Idee des 'aufgebrochenen' Musiktheaters Vorbilder, an denen Du dich orientierst?

Ich glaube die Idee kommt eigentlich vom Film, nicht vom Musiktheater. Die Idee einer aufgebrochenen Thematik gibt es - durch Verwendung verschiedenster Texte - schon in Luigi Nonos Intolleranza 1960 (1960/61). Da gibt es auch die Idee der räumlich über Lautsprecher eingespielten Chöre, und ich habe immer gedacht, wenn man bei solchen Konzeptionen wieder ansetzt, darf man dieses Stück nicht vergessen. Nur wollte ich eben ein Theaterstück als Ausgangspunkt nehmen, und keine reine Idee.

Bei Nonos Komposition handelt es sich ja im Grunde um Ideentheater...

Genau, und ich wollte kein Ideentheater machen! Denn was ich hier darstellen möchte, will ich eben nicht als Ideentheater darstellen, sondern mit Hilfe eines Aufeinanderprallens verschiedener Dinge, die das zwanzigste Jahrhundert repräsentieren... mit Ausnahme von Pop- und Schlagermusik.

Eine der ersten Kompositionen in Deinem Werkverzeichnis ist das Musiktheater Körperliche Veränderungen (1990/91) und Der Wald - ein tönendes Fastfoodgericht (1989/90) nach Texten von Elfriede Jelinek. Wo liegen die Unterschiede zwischen diesem Stück aus den Jahren 1989 bis 1991 und der Konzeption von Musiktheater, die Du heute in Bählamms Fest verwendest?

Also in diesem Werk - es handelt sich eigentlich um zwei Stücke, die nacheinander gespielt und durch ein orchestrales Zwischenspiel verbunden werden -, habe ich Texte nach Hörspielen von der Jelinek so zusammengestellt, daß Metaebenen im Text entstanden sind. In Bählamms Fest ist es dagegen ein traditionelles Theaterstück; es wird nur auf andere Weise aufgebrochen... In beiden früheren Stücken gab es auch schon Zitate, mit denen ich mich auf verschiedene Klischees bezog, um sie zu demaskieren, weil es dort um den Topos von Beziehungen ging. Solche Klischees benutze ich auch heute wieder, da wird etwa das Thema von den Unzulänglichkeiten menschlichen Daseins verfolgt. Die beiden sarkastischen Kurzopern waren da spielerischer. In Bählamms Fest ist allein der Aufwand schon viel größer, der Inhalt ist komplexer... und ich bin inzwischen schlichtweg acht Jahre älter... Es gab übrigens in den beiden Kurzopern auch schon Elektronik - obwohl relativ einfach -, und sie wurde an bestimmten Stellen auch im Raum verteilt.

Du hast also gleich bei deinen ersten Werken ein Maximum an medialen Möglichkeiten verwendet?

Für mich war das immer eine Selbstverständlickeit. Ich bin da vielleicht auch schon ein wenig anders aufgewachsen. Ich bin zwar kein Programmierer...

Für viele Komponisten, insbesondere der älteren Generation ist die Elektronik ja leider immer noch mehr Zutat...

Genau, und für mich ist sie keine Zutat, sondern ein zusätzliches Instrument. Da war eben für mich als Sechzehnjährige Nonos ...sofferte onde serene... für Klavier und Tonband (1974/76) ein wirklich ausschlagebendes Stück. Weil da die Elektronik mit der Musik, also mit dem Live-Musiker, so zusammenkommt, daß ein Wechselspiel entsteht, und daß man nicht mehr weiß, welche Ebene welche ist. Das ist ein Einsatz von Elektronik, der mich wirklich fasziniert. Es hat für mich auch keinen Sinn, wenn man einfach eine Elektronik oder ein Band hinstellt, die nichts mit den Instrumentalisten zu tun haben. Das Spannende bei Nono sind eben die Vexierspiele, die im Verhältnis zwischen einem traditionellen Instrument zu einem Band oder der Live-Elektronik entstehen. Dadurch ergibt sich eine Hyper-Ebene, und diese Hyper-Ebene interessiert mich.

© 1998 Stefan Drees. Weiterverwendung, auch auszugsweise, nur mit Erlaubnis des Autors.
 

Das Gespräch zwischen dem Musikwissenschaftler Stefan Drees und Olga Neuwirth fand im April 1998 in Venedig, dem Wohnort der Komponistin, statt. Es wurde veröffentlicht in dem von Stefan Drees herausgegebenen Band 27 der Reihe fragmen mit Beiträgen von und über Olga Neuwirth (Pfau Verlag Saarbrücken, 1999) und wird hier mit geringfügigen Änderungen wiedergegeben. Das Musiktheaterstück Bählamms Fest wurde vierzehn Monate nach dem Gespräch, am 19. Juni 1999, bei den Wiener Festwochen mit großem Erfolg uraufgeführt.

Anmerkungen

[1]  Das Theremin, 1920 erfunden von Leon Theremin (1896-1993), ist ein elektronisches Musikinstrument, bei dem der Klang durch die wechselnde Einwirkung zweier Hochfrequenzstromkreise auf schwingende Radioröhren hervorgebracht wird. Indem ein Stromkreis durch die Bewegung der Hand auf eine Antenne einwirkt, können gleitende, der vokalen Klangfarbe ähnliche Tonhöhen erzeugt werden. (zurück nach oben)

[2]  Maurice Nadeau: Geschichte des Surrealismus, Reinbek: Rowohlt 1965, Neuausgabe 1986, S. 8. (zurück)

[3]  Vgl. The Wolf-Man and Sigmund Freud, ed. by Muriel Gardiner, London u.a.: Karnac 1989. (zurück)

[4]  Mordechaj Gebirtig (1877-1942), Krakauer Tischler, Komponist und Textdichter zahlreicher jiddischer Lieder, wurde von deutschen Soldaten im Krakauer Ghetto erschossen. Seine Lieder sind gesammelt in der Anthologie Mordechaj Gebirtig. Jiddische Lieder, hrsg. von Manfred Lemm, Wuppertal: Edition Künstlertreff 1992. (zurück)

[5]  Henryk Wieniawski (1835-1880), polnischer Komponist und Violinvirtuose. Zu seinen bekanntesten Kompositionen gehören die beiden Violinkonzerte Nr. 1 fis-moll op. 14 und Nr. 2 d-moll op. 22, aus dessen zweitem Satz die erwähnte Melodie stammt. (zurück)

[6]  The Veldt (Das Kinderzimmer) erschienen 1951 in der Sammlung The Illustrated Man. Vgl. Ray Bradbury: Der illustrierte Mann, Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Peter Naujack. Zürich: Diogenes 1962. (zurück)

Dossier Olga Neuwirth
Komponisten: Portraits, Dossiers

 

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