Wolfgang Rihm über gute Ausdrucksmusiker, böse Intellektuelle und neue Schreib-Maschinen

Schriftbilder, Klangbilder und Klischees beim Komponieren
Interview mit Max Nyffeler

Sie sind in den 1970er Jahren als Angehöriger einer Komponistengeneration in Erscheinung getreten, die der damals dominierenden postseriellen Ästhetik eine neue Ausdruckskunst entgegen gesetzt hat. Die heutigen Jungen empfinden auch wieder ein dumpfes Unbehagen gegen die bestehende Ästhetik und suchen nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, diesmal jedoch mit Hilfe von Computer und Raumklangexperiment. Sehen Sie da Parallelen zu ihren Erfahrungen der siebziger Jahre?

Jeder, der beginnt, befindet sich im Gegensatz zum Etablierten, selbst wenn er es gar nicht will. Darin sehe ich weder etwas Besonderes noch etwas Problematisches. Das ist doch selbstverständlich und überhaupt noch keine Eigenleistung. Aber jeder wird sich natürlich auch irgendwann die Frage stellen müssen, ob er nicht seinerseits die Position, mit der er angetreten ist, verabsolutiert und zementiert, so dass es zu einer Verfestigung kommt. Das kann genau so gut mit einer Ausdrucksmusik wie mit seriellen Strukturen oder elektronisch generierten Klängen passieren. Das Mittel spielt keine Rolle. Auf die Haltung kommt es an.

Wann beginnt der Moment der Entfremdung, da dem Komponisten das Material als etwas Gegenständliches, Verfestigtes gegenüber tritt?

Wenn in der Verwendung eines bestimmten Klangmediums schon der Garant dafür gesehen wird, dass eine Aussage im Sinne einer künstlerischen Hervorbringung, einer Schaffung von musikalischer Gestalt geleistet wäre.

Sind Ausdruckskunst und intellektuell gesteuerte Kunst Gegensätze?

Man darf sich nicht dem Irrtum hingeben, Unmittelbarkeit und Ausdruck seien keine intellektuell reflektierte Kriterien. Auch Ausdruck ist eine intellektuelle Entscheidung. In einer bestimmten historischen Situation Unmittelbarkeit und Ausdruck zu fordern und anzustreben, das geschah ja nicht aus dumpfer Ahnung, sondern aus einem künstlerischen Wissen und einer scharfen Analyse heraus. Es wird immer so ein Gegensatz konstruiert: "Da waren die bösen Intellektuellen, und dann kamen die guten Triebhaften mit ihren schönen Gefühlen usw." Aber man könnte es ja auch umgekehrt sagen: "Da waren die naiven Intellektuellen, und dann kamen ausgebuffte, scharf denkende Ausdruckskünstler." Man muss es nur einmal von verschiedenen Seiten betrachten. Ich will aber keinen Sophismusstreit vom Zaun brechen.

Schon die Fixierung der Musik auf dem Papier, der Akt der Notenschrift, ist ein rationaler Akt, das geht nicht spontan.

Das ist vor allem ein physisches Problem. Da habe ich meine krumme Wirbelsäule her.

Schiebt sich das Notenschreiben nicht als Wand zwischen Sie und das Werk?

Das ist etwas, das ich mit meinen Schülern immer wieder diskutiere: Wo fängt das Komponieren an und wo hört die Schrift auf? Ein Schriftbild herzustellen ist halbwegs leicht. Jeder Schriftbegabte kann ein komplexes Schriftbild, ein durchsichtiges Schriftbild oder was auch immer herstellen. Wenn man in einer Wettbewerbsjury sitzt, merkt man, wie Schriftbilder als Leitfiguren in den Köpfen kursieren. Es sind Schriftbilder und weniger die Klangvorstellungen, die dominieren.

Viele beziehen heute ihre Klangvorstellungen vom Computer.

Ich habe gar nichts dagegen, wenn jemand aus der Empirie der Klangerfindung heraus zum Schriftbild kommt. Das ist etwas, das ich fördere. Ob er nun vor dem Computer sitzt und dort mit Klängen spielt, ob er am Instrument arbeitet oder mit Instrumentalisten, deren Klänge er dann sampelt – das sagt noch gar nichts. Für den einen ist die Vorstellung wichtig, und für den andern der reale Klang. An beidem gilt es zu arbeiten, und an beidem zeigt sich, ob man etwas damit anzustellen weiß. Und wie die Schriftbilder oft schon für die Sache selber genommen werden, so werden oft auch die Klangsphären schon für die Sache selber genommen.

Wo lässt sich das beobachten?

Das kann man weit zurück verfolgen. In bestimmten Kompositionen der 1920er Jahre war es unabdingbar, dass ein Saxophon mitspielte; später war es die Hammondorgel. Das hat Zeitgenossenschaft garantiert. Was damit gespielt wurde, war zunächst sekundär. Wenn man heute "Jonny spielt auf" von Krenek hört, macht das einen einigermaßen biederen Eindruck. Damals waren die Worte "Jazz" und "Neger" Reizworte und zogen die Aufmerksamkeit auf sich. Dieser Quatsch funktioniert nur deswegen, weil die Schlagworte die Sicht auf die Sache selbst verstellen. Und diese ist oft recht harmlos.

Ist das heutige Saxophon der Computer?

Als Klang generierendes Medium ist der Computer ziemlich eindimensional. Das ist nur ein Arbeitsgerät wie eine Schreibmaschine – ein Hilfsmittel, um etwas in die Gänge respektive Klänge zu bringen. Auch da kann man unterscheiden: Wer macht etwas Lebendiges, Dichtes damit, und wer absolviert nur ein Zeitgenossenschaftsprogramm? Ich bin inzwischen so weit, zu sagen: Wenn man in der Sphäre des Akustischen sprechen, artikulieren, formen, gestalten will, kann man irgendwo beginnen. Man wird unweigerlich an den entscheidenden Punkt kommen. Wenn nur zwei Stöckchen da sind, dann klopft man eben mit zwei Stöckchen. Und wenn ein elektronisches Studio da ist und man mag es verwenden, dann geht man eben dahin. Das ist für mich keine Grundsatzentscheidung.

Sie haben – abgesehen von der "Etude d'après Séraphin" – bisher eine bemerkenswerte Abstinenz gegenüber der Elektronik an den Tag gelegt. Was hat das für Gründe?

Es ist eine Entscheidung nicht gegen etwas, sondern für etwas. Ich bin ein leidenschaftlicher Anhänger des live gespielten, unveränderten Instrumentalklanges. Wenn ich mich nicht mit Elektronik beschäftige, heißt das nicht, dass ich ihre Möglichkeiten gering einschätze. Ich kann mir gut vorstellen, wieder einmal mit elektronischen Mitteln zu arbeiten. Vor allem mit Live-Elektronik; das ist eine Technik, die sich den Aufführungsgegebenheiten anschmiegt und diese wiederum beeinflusst. Da sehe ich Möglichkeiten. Alles andere ist mir zu tot. Aber momentan kommt das für mich nicht in Frage. Ich brauche den lebendigen Interpreten, der im Moment des Spiels das Risiko des Scheiterns – ohne Hilfsmittel, ganz nackt und bloß – verkörpert.

Das wäre im Idealfall die menschliche Stimme.

Ja, ich schreibe immer mehr für Gesang. Und das finde ich nach wie vor das Schwierigste, was es gibt.

© 2003 Max Nyffeler
Das Interview entstand am 19.12.2002 im Auftrag der Ernst von Siemens Musikstiftung.

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