Münchener Musiktheater-Biennale 2008: Hörtheater und Geräuschsinfonie

Immer schön den Rändern entlang. Die Münchener Biennale für neues Musiktheater erschließt neue Nischen

Um das Konzept einer „zweiten Moderne“ in der Musik, das Biennale-Intendant Peter Ruzicka vor einem Jahrzehnt propagiert hat, ist es in jüngster Zeit auf theoretischer Ebene eher still geworden. Einst mit kämpferischem Elan als Heilmittel gegen postmoderne Beliebigkeit in die Welt gesetzt, hat es sich zur Veranstaltermaxime gewandelt und in der pluralistischen Landschaft der Trends und Stile inzwischen selbst als ein Trend unter vielen etabliert.

Von Risiken bei dieser Remedur am Zeitgeist ist nichts bekannt, doch zu den Nebenwirkungen zählt der Umstand, dass sich die Münchener Musiktheater-Biennale seither zu einer nach allen Seiten offenen Spielwiese für musiktheatralische Experimente entwickelt hat. Nichts ist unmöglich, alles erlaubt und ein Schelm, wer dabei an eine besonders kostbare Variante von postmodernem Spieltrieb denkt.

Oper war vorgestern und das Musiktheater ist auch nicht mehr das jüngste. So geht es heute also um die Möglichkeit von Situationen, um offene Konzepte und die Interaktion von Text- und Musikmaterialien, die „in den Raum hineingeschrieben werden“, wie die Autoren in den Programmheften und Podiumsgesprächen der Biennale in bestem Seminardeutsch verlauten lassen.

Arbeit Nahrung Wohnung: Enno Poppes Robinson-Erzählung

Eine „Bühnenmusik für vierzehn Herren“ nennt der 39-jährige Enno Poppe, vielgefragter Komponist seiner Generation, sein erstes großes Musiktheaterstück „Arbeit Nahrung Wohnung“, Nach der verunglückten Eröffnungspremiere der  Münchener Biennale - der Hauptdarsteller erlitt während der Aufführung einen Schwächeanfall - gelangte es mit zwei Tagen Verspätung zur Uraufführung. Dreh- und Angelpunkt ist trotz vieler gesprochener Passagen die Musik, und das gilt auch für den Entstehungsprozess. Zu Beginn hatte der Komponist nach eigenem Bekunden den Klang eines Synthesizer-Orchesters im Ohr, und erst danach stieß er auf das Sujet in Gestalt von Daniel Defoes „Robinson“, das er dann gemeinsam mit dem Literaten Marcel Beyer zur Bühnenreife entwickelte.

Die Geschichte des Schiffbrüchigen, der sich auf seiner Insel die vertrauten zivilisatorischen Standards in jahrelanger mühseliger Arbeit erst wieder aneignen muss, erzählt das Libretto rückwärts. Es beginnt mit der Rettung durch die aufdringlich-neugierigen Seeleute und endet mit der Einsamkeit eines Einzelgängers, der die Welt nicht mehr versteht. „Ich geh’ vielleicht als Meerschweinchen in die Geschichte ein“, sind seine letzten Worte.

Indem Beyer seinen Robinson nicht nur die Alltagspraxis,  sondern auch die zugehörigen Namen und Begriffe noch einmal neu lernen lässt, macht er ihn zugleich zum Geistesbruder von Kaspar Hauser: Die Welt entsteht in der Sprache. Beyers Libretto ist ein kleines Sprachkunstwerk für sich, reich an Bildern, mit schräger Phantasie und einem guten Schuss Selbstironie.

Das ist aber auch das Problem des Stücks. Der in sich geschlossene Text mag zwar einen Komponisten mit der spielerisch-kombinatorischen Intelligenz Enno Poppes dazu herausfordern, dem Sprachwitz musikalisch noch eins draufzusetzen, doch er verlangt nicht zwingend nach einer Szene.

Doch es gibt viel zu hören: Die auf wechselnden mikrotonalen Stimmungen beruhende, zwischen Autonomie und Funktionalität pendelnde Musik besitzt Momente von enormer Leichtigkeit und gestischer Kraft, und die vier Keyboardspieler und vier Schlagzeuger der Kölner musikFabrik unter der Leitung von Michael Wendeberg werden in der Art des instrumentalen Theaters selbst zu Akteuren. Die Vokalpartien gehören mit zum Besten. Die zwischen schottischem Shanty-Tonfall und elaborierter Mehrstimmigkeit wechselnden Matrosengesänge werden von den Neuen Vocalsolisten Stuttgart fabelhaft beweglich vorgetragen, und die feinen Melodielinien von Robinson und Freitag mit ihren Anklängen an den reduktionistischen Vokalstil von Salvatore Sciarrino erhalten durch Graham F. Valentine und Omar Ibrahim ihr unverwechselbares Profil.

Wenn trotz dieses beeindruckenden Potenzials das Ganze manchmal wie ein mühsam bebildertes Konzert wirkte, das obendrein einige gähnende Längen aufwies, so lag das an der Hermetik der Vorlage; dazu kam, dass der Text trotz Mikrophonverstärkung nicht immer verständlich war und im allgemeinen Technosound manchmal unterzugehen drohte.

An der Inszenierung durch Anna Viebrock dürfte es kaum gelegen haben. Ihr in probaten graubraunen Tönen gehaltenes Bühnenbild, das das Geschehen in einen zivilisierten Innenraum und damit in die Fremde der Gegenwart verpflanzte, gewährte den Darstellern viel Bewegungsspielraum, und beim Bemühen, den sperrigen Einzelmomenten einen erkennbaren Sinn abzugewinnen, konnte sie sich auf die herausragenden Fähigkeiten der Akteure abstützen. In der Schlussszene, in der sich die Zeit immer mehr dehnt, war indes auch die Regie mit dem Latein am Ende. Robinson in der Schwimmweste, mit der Signallampe SOS ins Publikum funkend: Rettung war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Sicht. Sie könnte allenfalls mit dem Rotstift erfolgen.

Architektur des Regens: Klaus Langs Ausflug in das Land des Schweigens

Auch in der zweiten Uraufführung der Münchener Biennale, Klaus Langs „Architektur des Regens“, ist Textverständlichkeit ein rares Gut, doch im Unterschied zu Poppe ist sie hier auch gar nicht beabsichtigt. Klaus Lang und Claudia DodererDer 1971 in Graz geborene Komponist und Organist, der schon mehrere Bühnenwerke schrieb und sich längere Zeit in Japan aufhielt, will, dass man sich ganz dem Klangerlebnis hingibt und nicht das begriffliche Textverständnis sucht. Der gesungene Text wird zur rein phonetischen Erscheinung destillliert, und wer sich für die Inhalte interessiert, kann sie im Programmheft nachlesen: Kurze, enigmatische Verse, gewonnen aus dem Text von Motokiyo Zeami zu einem alten japanischen Nô-Theaterstück. Ein Städter trifft auf einen Holzfäller, in dem er den Gott der Dichtkunst zu erkennen glaubt.

Das traumähnliche Ineinander von Innen- und Außenwelt und die intuitive Form der Erkenntnis schlagen sich in der Werkstruktur nieder. Es wird keine Handlung erzählt, sondern eine konstante Bewusstseinsmetamorphose in Gang gesetzt, bei der Ich und Er, Zeit und Raum ineinander verfließen.

Klaus Lang und die für die Inszenierung verantwortliche Claudia Doderer haben daraus eine musikalisch-szenische Bilderfolge von hohem Abstraktionsgrad und zugleich beträchtlicher Suggestivkraft entwickelt. Der Bühnenraum ist in monochromes Schwarzweiß mit allen dazwischen liegenden Graustufen getaucht. Eine raffinierte Beleuchtung sorgt für einige klare Zeichen und diffuse Lichtinseln im konturenlosen Bühnenraum, in dem sich die Figuren schemenhaft und im Zeitlupentempo bewegen.

Ebenso konsequent reduziert ist die Musik. Die kammermusikalische Begleitung bevorzugt das vierfache Piano, die beiden Hauptfiguren singen in ätherischer Sopranlage ihre kargen Lyrismen, drei Bässe markieren mit einigen vokalen Tupfern den „Klang der Landschaft“.

Das alles ist stark vom japanischen Denken inspiriert und ist doch zutiefst europäisch empfunden. Die Aufmerksamkeit des Komponisten gilt weniger den Grenzlinien zwischen Klang und Stille als dem Klang selbst, und spätestens wenn sich die Klangzeichen zu harmonischen Gebilden erweitern und die Glöckchen bimmeln, sind wir wieder bei uns zu Hause angelangt. Die Exkursion ins puritanische Land der Stille hat aber jedenfalls die Sinne geschärft.

Piero – Ende der Nacht: Jens Joneleits Nono-Mimikry

Was kommt sonst noch heraus, wenn Texte und Noten "in den Raum hineingeschrieben werden", wie das Wort des Tages gegenwärtig lautet? Zum Beispiel ein „Hörstück der wandernden Gedanken und Klänge“. So bezeichnen der Komponist Jens Joneleit, der Librettist Michael Herrschel und der Raumgestalter Gunnar Hartmann ihr Projekt Piero – Ende der Nacht, mit dem in den letzten Apriltagen die Biennale 2008 zuende ging. Es ist mehr Konzept als Resultat, ein Bündel von Möglichkeiten und Andeutungen, oder nach den Worten der Autoren: eine Musik, die in den Raum hineinkomponiert ist, ein Raum, der bloß ein Werkzeug ist, ein Text, der Denkangebote macht und auf einem Stoff beruht, der seinerseits ein Dialog-Angebot bereithält.

Der Raum: Er besteht aus einer symmetrischen Doppeltribüne nach Art des englischen Unterhauses, auf sich die Zuschauer Aug’ in Auge gegenübersitzen. Unten, wo sich in Westminster die Regierungsbank mit Gordon Brown befindet, sitzen in der Münchner Muffathalle die Techniker des Freiburger Experimentalstudios, die für die Beschallung zuständig sind. Die Musiker des von Yuval Zorn dirigierten Ensemble Modern sind unter den Tribünen verteilt und erzeugen einen breit gefächerten Raumklang. Spielort sind die Treppen und Rückseiten der Publikumstribünen sowie der schmale freie Gang dazwischen. Darauf üben sich die Akteure zu der in gleichmäßig  gedehntem Tempo gehaltenen Musik einen Abend lang in gemessenem Schreiten. Der Regisseurin Katharina Thoma und der Ausstatterin Anemone Bold ist jedoch zugute zu halten, dass sie aus dem kargen Angebot an Handlungsmomenten ein Optimum an präzisen und sinnfällig gesetzten Zeichen herausgekitzelt haben.

Inhaltlich geht es um die Möglichkeit und Unmöglichkeit von Kommunikation, dargestellt am Fall des einsamen Fischers Piero, einer Nebenfigur aus Alfred Anderschs zeitgeistigem Roman der späten 1950er Jahre Die Rote. Ihn lässt das Stück in einer Doppelbesetzung als Sprecher und Sänger auftreten. Dazu kommt ein Solistenchor, der Textfragmente aus dem Roman vorträgt. Aus der in Venedig spielenden Vorlage extrahierten die Autoren eine Folge von zerfließenden Stimmungsbildern. Der Chor singt von den Aalen im Schlamm der Lagune, vom Kaffee in Mazzorbo und den "Risonanze erranti" über den dunklen Wassern der Lagune.

Wenn es die Musik nicht schon vorher verraten hätte, käme einem spätestens hier in den Sinn, dass um die Ecke ja gleich Luigi Nono wohnte. In dessen späten Partituren hat Joneleit offensichtlich ausgiebig geblättert. Man begegnet wieder den düsteren Blechbläserchören und dumpfen Schlagzeugeruptionen von Al gran sole carico d'amore, den reinen Chor-Intervallen aus Prometeo und den live-elektronisch zu Glockenklängen transformierten Streicherpizzicati des zweiten Diario Polacco, nur dass eben alles ein bisschen gröber, plakativer und vor allem unauthentisch wirkt. Die musikalischen Vokabeln suggerieren existenzielle Bedeutungsschwere, doch vermag das Stück nicht klar zu machen, welcher Art denn nun eigentlich das Problem des Piero ist, das es einen Abend lang mit großer inszenatorischer Geste beschwört.

hellhörig: Caola Bauckholts inszenierte Geräuschsinfonie

Carola Bauckholt: hellhörigDie Produktion „hellhörig“ für drei Stimmen, drei Celli, Klavier und vier Schlagzeuger hat sich bescheidenere Ziele gesteckt. Carola Bauckholt, alterprobte Praktikerin im Fach experimentelle Klangerzeugung, rät von semantischen Deutungsversuchen ihres Stückes ab – sein Sinn soll sich nur aus der Musik erschließen. Auch hier also ein Theater des Hörens, allerdings ohne Anleihen bei Nono, sondern in der Tradition des instrumentalen Theaters von Mauricio Kagel, bei dem Bauckholt einst studierte.

Thema ihres Stücks sind die Klänge selbst und ihre Erzeugung; auch die drei Vokalisten tragen nur Vokalisen und vielfältige Geräuschaktionen vor. Ein riesiger Apparat an täglichen Gebrauchsgegenständen und selbstgebastelten Geräten weitet das traditionelle Instrumentarium zum Geräuschorchester aus, das mit immer neuen Klangerfindungen und -kombinationen zu überraschen vermag. Die Live-Klänge werden diskret vermischt mit Lautsprechersignalen, bestehend aus Tierstimmen oder konkreten Geräuschen.

Die Theatralik des Stücks erwächst aus der Klangproduktion selbst, und trotz fehlender Handlung kommt auch das Auge auf seine Rechnung. Das verdankt sich nicht zuletzt der Inszenierung durch Georges Delnon und Roland Aeschlimann. Sie bauten ein intimes Amphitheater in klinischem Weiß, von dessen Rängen aus das Publikum das muntere Treiben aus der Nähe und mit konzentrierter Aufmerksamkeit verfolgen kann. Durch die unauffällige Strukturierung der Gänge und Aktionen der Musiker hilft die Regie dem Ohr, sich im dichten Beziehungsnetz der akustischen Ereignisse zurechtzufinden.

Mit ihrer handwerklicher Sorgfalt und Kenntnis der visuell-akustischen Wahrnehmungsmechanismen hat die Komponistin ein Stück geschaffen, das den Mischformen zwischen Musiktheater und Klanginstallation eine neue und originelle Variante hinzufügt. Wenn trotz aller Qualitäten das leise Gefühl von Kunsthandwerk auf hohem Niveau zurückbleibt, so liegt das an ihrem blinden Vertrauen in die Sprachfähigkeit des nackten Materials. Zum Musiktheater gehört vielleicht doch mehr als das intelligente Arrangieren von akustischen Gegenständen.

© 2008, Max Nyffeler

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(Mai/2008)

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