Hans-Joachim Koellreutter mit 90 Jahren gestorben
Lebendiger Widerspruch war das Element, in dem er sich zeitlebens wohlfühlte, und den Widerspruch trug er auch das brasilianische Musikleben hinein, als er Ende der 1930er Jahre als Komponist, Theoretiker, inspirierender Lehrer und Organisator die Zwölftontechnik in Brasilien propagierte. In Brasilien wird deswegen die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts manchmal in eine Zeit vor und nach Koellreutter eingeteilt. Geboren wurde Koellreutter 1915 in Freiburg im Breisgau. Er studierte Komposition, Dirigieren und Flöte in Berlin und emigrierte 1937 über Genf, wo er seine Studien bei Marcel Moïse abschloss, nach Brasilien. Hier schlug er sich zunächst als Schirmverkäufer und Tanzmusiker durch, bevor 1938 seine Lehrtätigkeit in Rio, nach dem Krieg auch in São Paulo einsetzte. Die von ihm gegründete Gruppe Música Viva mit einem Ensemble zur Förderung junger Komponisten und Interpreten und der gleichnamigen Zeitschrift wurde zu einem Forum, in dem die neuen Ideen mit revolutionärem Elan verkündet wurden. Es geschah im Geist Hermann Scherchens, bei dem er in Europa noch studiert hatte. "Die Gruppe Música Viva kämpft für die Ideen einer neuen Welt, im Glauben an die schaffende Kraft des menschlichen Geistes und an die Kunst der Zukunft", schließt das berühmte Manifest der Gruppe Música Viva von 1944, das von Koellreutter und sieben seiner Schüler und Anhänger unterzeichnet wurde. Zwei Jahre später folgte ein weiterer gemeinsamer Text, der in radikaler Weise eine gesellschaftsbezogene, antiakademische und für alle Experimente offene Musik propagierte. Vorkämpfer des NeuenMit seinen Polemiken polarisierte Koellreutter die brasilianische Öffentlichkeit. Ein "Offener Brief an alle Musiker und Musikkritiker Brasiliens", in dem sein Widersacher Mozart Camargo Guarnieri die Dodekaphonie als Angelegenheit einer elitären Gruppe von Außenseitern und Paranoikern apostrophierte, wurde zum Startschuß einer jahrelangen, erbitterten Fehde zwischen "Nationalisten" und "Progressiven" in der brasilianischen Musik. Als Komponist öffnete sich Koellreutter in den sechziger Jahren dem Gedanken des offenen Kunstwerks, was noch bis in die Werken der achtziger und neunziger Jahre nachwirkte. Zu Koellreutters Freundes- und Schülerkreis gehörten Komponisten wie Cláudio Santoro, Guerra Peixe, Edino Krieger sowie Eunice Katunda, die um 1951 Luigi Nono mit afrobrasilianischen Rhythmen bekannt machte; auch Tom Jobim, der später mit seinem Bossa Nova-Titel "A garota de Ipanema" ("The Girl of Ipanema") Weltruhm erlangen sollte, nahm bei ihm Unterricht. Seine Erziehungstätigkeit setzte er in Salvador fort, wo er 1952 den Auftrag bekam, an der neu gegründeten Universität von Bahia die Musikabteilung und ein Sinfonieorchester aufzubauen. Als vielseitiger Künstler und Organisator wurde Koellreutter 1963 zum Goethe Institut nach München berufen, anschließend wechselte er in die Zweigstellen nach Neu Delhi und als Direktor nach Tokyo. Nach seiner Rückkehr nach Brasilien im Jahr 1975 blieb er ein unermüdlicher Kämpfer für das Neue, das er nun aber in der kulturellen Überlieferung verankert sehen wollte. Die Integration der kulturellen Werte in die gesellschaftlichen Prozesse sei entscheidend für die Zukunft des Planeten, sagte er 1989 in einem Gespräch mit der Komponistin Graciela Paraskevaídis. Der Idee einer Versöhnung von Kunst und Leben im Zeichen eines menschenwürdigen Fortschritts blieb er bis zuletzt treu. © Max Nyffeler 2005 Mehr Infos auf www.latinoamerica-musica.net: (Datum/2001) |