Die ungebrochene Modernität Joseph Haydns

Das Lucerne Festival 2009 richtet zu Ostern den Blick auf seine Vokalmusik

Manchmal muss ein Dirigent auch hinter seinem Rücken für Ordnung sorgen. Beschwörend breitet Nikolaus Harnoncourt die Arme aus und hält die  Bewegung sekundenlang an. Dreimal hat ihm im Menuett von Joseph Haydns Sinfonie einer aus dem Publikum in die Generalpause hineingehustet, doch nun, bei der letzten Wiederholung, bleibt es endlich ruhig. Man kann die gespannte Stille auf sich wirken lassen, die den musikalischen Fluss abrupt unterbricht, und einen Augenblick lang hält der ganze Saal den Atem an.

Der achtzigjährige Harnoncourt ist noch immer der große Ausdrucksmusiker unter den Dirigenten, und solche brüsken Momente des Innewerdens gelingen ihm wie keinem anderen. Es ist nicht die Espressivotradition der Spätromantik, sondern die der großen, nach Objektivität strebenden Affektkunst von Monteverdi bis Bach, die sein Musikverständnis prägt und die nun auch Haydns Sinfonie Nr. 95 in c-Moll ihre historische Tiefendimension verlieh.

Nicht weniger packend dann die „Missa in tempore belli“ von 1796, in der die Kriegsängste der Menschen im belagerten Wien ihren Widerhall finden. Mit einigen einführenden Worten wies der Dirigent vor der Aufführung auf diese Zeitumstände und auf Verfahren der Textausdeutung hin und baute damit dem säkularisierten Bewusstsein heutiger Konzertgänger eine kleine Eselsbrücke zum Verständnis der existenziellen Dringlichkeit, mit der hier Weltangst, Glaubenzweifel und -zuversicht musikalisch ausformuliert werden. Das bewegende Konzert mit dem Concentus Musicus und dem Arnold Schönberg Chor Wien gab den Blick frei auf Joseph Haydns unerhört erfindungsreiche, in ihrer schöpferischen Vielfalt bis heute einzigartige Musik, die einen roten Faden im Programm des Osterfestivals in Luzern bildete.

Eine andere Perspektive auf Haydn eröffneten Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Mariss Jansons mit der 1802 komponierten Messe in B-Dur. Die Interpretation unterstrich die sinfonischen Qualitäten des wegen seiner reichhaltigen Bläserbesetzung auch „Harmoniemesse“ genannten Spätwerks. Die Solopartien (Malin Hertelius, Judith Schmid, Kurt Streit und David Wilson-Johnson) wurden hier von Haydn häufig zu einem zwei- bis vierstimmigen Vokal-Ensemble zusammengefasst, das kunstvoll in die weitläufig angelegte und zugleich sehr differenziert gestaltete Großform eingearbeitet ist. Im Vergleich zu dieser rundum überzeugenden Aufführung erschien das andere Chorwerk des Konzerts, Strawinskys Psalmensinfonie, nicht so klar konturiert.

Das Münchner Orchester ist seit 2004 regelmäßig in Luzern zu Gast und fühlt sich hier offenkundig wohl, nicht zuletzt vermutlich auch wegen der vortrefflichen Saalakustik, von der es zu Hause nur träumen kann. Ab 2011 wird es seine Luzerner Aktivitäten sogar in Richtung zeitgenössischer Musik und Nachwuchsförderung ausbauen.

Als Entdeckung erwies sich das dritte große Chorwerk von Haydn, das vom Orchester des Collegium Musicum Luzern und dem Mozart-Ensemble Luzern unter der Leitung des Alte-Musik-Spezialisten Andrew Parrott aufgeführte "Stabat Mater". 1767, noch vor Haydns epochaler „Erfindung“ des bis in zwanzigste Jahrhundert hinein wirksamen motivisch-thematischen Komponierens und des durchbrochenen Satzes entstanden, fasst es die zu seiner Zeit verfügbaren Ausdrucksformen und Techniken in einer hoch expressiven Klangerzählung zusammen, deren Schmerzenstonfall stets von lieblichem Wohlklang überglänzt wird.

Die litaneihafte Schlichtheit der trochäischen Dreizeiler inspirierte Haydn zu einem ungeheuren Reichtum an musikalischen Gestalten. Herz-Jesu-Frömmigkeit und virtuose Koloratur, zeittypische Empfindsamkeit und opernhafte Zornesarie stehen nebeneinander. In dem im strengen Stil komponierten, abschließenden Chortableau beginnt zu den Worten „Paradisi Gloria“ plötzlich der Solosopran in der Höhe zu tirilieren (federleicht: Miriam Feuersinger), während tief unter ihm sich der Chor in der Figur des Passus duriusculus, der Schmerz symbolisierenden absteigenden Halbtonfolge, ergeht. Großer, trauernder Affekt und heitere Empfindung, die gegensätzlichsten Affekte in einem Atemzug – auf diese Idee musste erst mal einer kommen.

Den zweiten Programmschwerpunkt neben der Haydn-Huldigung bildete der Beethoven-Zyklus unter Bernhard Haitink, der nun mit einer Aufführung der Neunten seinen würdigen Abschluss fand. Dank Haitinks Affinität zu straffen Tempi und schlanker Tongebung fand das Werk zu einer pathosfreien und klangschönen Interpretation, die die große Architektur nie aus dem Blick verlor; der Schweizer Kammerchor und die vier Gesangssolisten passten sich glänzend in das Gesamtkonzept ein.

In seinem Beethoven-Zyklus verbindet der mittlerweile achtzigjährige Dirigent Einsichten der historische Aufführungspraxis mit dem Klang des modernen, aber klein besetzten Orchesters. Im perfekt einstudierten, blitzsauber intonierenden Chamber Orchestra of Europe hat er ein Instrument, mit dem er sein Ideal eines transparenten Klangs mit rhythmischem Feinschliff optimal verwirklichen kann. In der Wiedergabe der zupackend gespielten dritten Leonoren-Ouvertüre, der ersten und achten Sinfonie sowie des zweiten Klavierkonzerts mit der zu schwebender Leichtigkeit tendierenden Solistin Maria João Pires zeigten sich die hohen Qualitäten von Haitinks Auffassung.

© 2009 Max Nyffeler
Eine leicht gekürzte Printversion ist in der FAZ vom 24.4.2009 erschienen.

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