Subtilität und Ungestüm

Maurizio Pollini spielt Stockhausen und Beethoven (Lucerne Festival, 4.9.2011)

Was wurde über die frühen Klavierstücke von Karlheinz Stockhausen nicht alles geschrieben! Reihenanalysen, Gruppentheorien, informationstheoretische und statistische Untersuchungen, nicht zu vergessen die Selbstanalysen des Meisters selbst. Sie waren von einem dicken Theoriepanzer umgeben, beim Hören war Stirnrunzeln angesagt, ästhetischer Genuss verboten. Und nun kommt Maurizio Pollini und spielt die Klavierstücke VII und IX mit einem Klangsinn, als handle es sich um Chopin oder Debussy: Obertonwirkungen, Nachhall-Nuancen und immer neue Akkordfarben – Anschlagskunst der subtilsten Art. Bei Nummer VII klingt alles plötzlich leicht und transparent wie eine Mazurka von Chopin, mit fein gezeichneten Arabesken, die sich um die formstabilisierenden Zentraltöne ranken.

Das Klavierstück IX mit seinen decrescendierenden Akkordwiederholungen präsentiert Pollini als eine Studie des Verklingens: In immer neuen Ansätzen verströmt sich die Musik, als ob sie das Ausatmen erlernen würde. Das geschieht bei den Akkordwiederholungen nicht mechanisch-stromlinienförmig, sondern mit kleinsten Schwankungen, wie es eben beim lebendigen Atem auch der Fall ist, und überträgt sich auf die Form als Ganzes. Die Transformation des akkordischen Klangs in einen figurativen Klang im Lauf des Stücks wird unter Pollinis Händen zu einem Prozess der Entmaterialisierung. Wie die Melodiepartikel gegen Schluss zu den Enden der Tastatur wandern, immer leiser werden und sich dann ins Nichts auflösen, erinnert an die flüchtigen Rauchspuren auf John Cages später Bildserie „River Rocks and Smoke“. Beides sind Symbole des Verschwindens.

Danach vier Beethoven-Sonaten. Direkt nach den Klangkunststücken bei Stockhausen erklangen die beiden kompakten Sonaten op. 78 Fis-Dur und op. 79 G-Dur, die erste in einem einheitlichen, aus den lyrischen Anfangstakten gewonnenen Affekt und mit einem von innen heraus leuchtenden Klang, die zweite mit kräftigem Impuls, der dem ersten Satz alle breitspurige Gemütlichkeit „alla tedesca“ austrieb und die Vorgabe „Presto“ furios zuspitzte.

Nach der Pause dann „Les Adieux“ op. 81a als musikalisch gerundetes, technisch bravourös dargebotenes Klanggemälde, und die Sonate op. 90 in e-Moll, die unüberhörbar Schubert als Vorbild diente. Dass ihr völlig unprätentiöser, antiheroischer Schluss an den im Nichts ausfasernden Schluss von Stockhausens Klavierstück IX erinnerte, verweist auf die Raffinesse, mit der Pollini seine Programme plant.

Wie Pollini heute Beethoven spielt, ruft bei manchen Anhängern eines formal wohlgeordneten Beethovenspiels Irritationen hervor. Doch entbehrt es nicht einer tieferen Logik. Es klingt wie ein Protest gegen die „normale“ Art, einzelne Formteile in Beethovens Architektur gut hörbar voneinander abzusetzen und zusammenzufügen, wenn möglich noch mit erhobenem Zeigefinger, so dass es auch jeder kapiert. Mit strukturellen Gegensätzen geht er oft großzügig um und fasst einzelne Gedanken und Satzteile zu großen Einheiten zusammen, über die er dann mit einer beinahe wütenden Ungeduld hinwegfegt. Manchmal klingt es, als betrachte Pollini Beethovens Musik aus weiter Ferne, als würde er einen Satz als in sich geschlossenes Klangzeichen auffassen und als Ganzes zu einer sprechenden Gestalt zurechtbiegen. Das ist nichts für jene Formsachverständigen, die die Relationen zwischen den Motiven und Formteilen auf dem Präsentierteller serviert bekommen möchten, auch nichts für die Liebhaber einer an der historischen Aufführungspraxis (also im wesentlichen der Praxis des rationalistischen Epoche) geschulten Artikulation und Rhetorik. So wie man es eben gelernt hat und wie es sich für den gebildeten Klassikkenner heute gehört.

Pollini scheint für diejenigen zu spielen, die die Stücke nicht jedes Mal erneut auf dieselbe Weise erklärt haben wollen. Hinter den Formhülsen sucht er den musikalischen Kern und tut dies mit großem subjektivem Aplomb - in einer Weise, der die schöpferische Erregung in jedem Moment anzuhören ist. Deswegen die fast überhastet wirkenden Tempi, deswegen das kopfüber sich Hineinstürzen in das Werk: die rechte Hand noch am Drehknopf zum Heraufschrauben des Klaviersessels, die linke schon anschlagsbereit auf den Tasten. Ein Klavierspiel, das sich aus der Angst vor dem Absturz seine Freiheit erkämpft. Als Netz ist da freilich stets die intuitive Sicherheit des großen Interpreten vorhanden, Resultat jahrzehntelanger Erfahrung und eines immer tiefer in die Materie eindringenden Geistes.

© Max Nyffeler, 4.9.2011

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