Warschauer Herbst 2007: Alte Pioniertaten und neue Deftigkeiten

Mit seinem 50. Jahrgang erinnert das Festival an seine Geschichte und arbeitet an seinen Zukunftsperspektiven

Selten sind die unterschiedlichen Auffassungen im Musikverständnis von Ost- und Westeuropa so eklatant zutagegetreten wie beim Eurovision Song Contest im letzten Mai in Helsinki. Die Teilnehmer aus Serbien, der Ukraine, Russland und Bulgarien, die die ersten Plätze besetzten, überzeugten durch die Vitalität und ungekünstelte Direktheit ihres Vortrags, während Briten, Iren, Franzosen und Spanier, allesamt traditionelle Bardennationen mit entwickelter Musikindustrie, auf den hintersten Plätzen landeten. Ob temporäre Schwäche oder neuer Trend – ihren Beiträgen fehlten schlicht der Biss und eine überzeugende Botschaft.

In der komponierten Musik gibt es diese Diskrepanz zwischen neuem und altem Europa nicht; noch hat der Osten den Westen nicht mit Schwung überholt. Eher ist, bei allen konzeptionellen und musiksprachlichen Unterschieden, ist auf musikalisch-technischer Ebene eine gewisse Annäherung zu beobachten. Doch der Vorsprung der westlichen Länder in den differenzierten Kulturtechniken, auf denen die zeitgenössische Musik aufbaut, scheint langsam zu schwinden.

Diesen Eindruck, konnte man jedenfalls vom Warschauer Herbst 2007 mit nach Hause nehmen. Das neuntägige Traditionsfestival, das nun seinen fünfzigsten Jahrgang feierte, bietet sich für solche Vergleiche an. 1956 im Zuge der nachstalinistischen Tauwetterpolitik gegründet, war es von Anfang an ein West-Ost-Treffpunkt mit weltoffener Atmosphäre, sehr zum Unbehagen der linientreuen Kulturpolitiker in den Nachbarländern.

Den Anspruch hat es auch nach 1989 aufrecht erhalten, und obwohl es seither seine Fühler zunehmend auch in entferntere Weltgegenden ausstreckt, hat es aus westeuropäischer Sicht den Charakter eines Schaufensters zum Osten bewahrt. So konnte man etwa einigen neuen und alten Namen aus Litauen begegnen: Der gegenwärtig im Westen eifrig gehandelten Orchesterkomponistin Onute Narbutaite, dem fünfundsiebzigjährigen, auf archaische Volksmusiktraditionen rekurrierenden Bronius Kutavicius sowie Osvaldas Balakauskas, der nach der Wende einige Jahre lang als litauischer Botschafter in Paris residierte. Als Neulinge in der Szene präsentierten sich die 1979 geborene Ukrainerin Lubava Sidorenko mit einem Ensemblestück von suggestiv-verhaltenem Ausdruck und die Komponisten/Interpreten-Gruppe „Electric Pro Contemporania“, die einen Einblick in die aktuelle Elektronik- und Laptop-Szene Rumäniens gab.

Das Festivaljubiläum war für die Veranstalter Anlass zum Rückblick auf die bewegte Geschichte der neuen polnischen Musik. Mit dem zweiten Teil der 1971 im Dom zu Münster uraufgeführten „Utrenja“ erwies man Krzysztof Penderecki die Referenz. Die Gründergeneration um Tadeusz Baird, Witold Lutoslawski, Wlodzimierz Kotonski und Henryk Mikolai Górecki kam mit Werken aus der Aufbruchszeit nach 1956 zum Zug – sie wirken auch heute noch kein bisschen verbraucht.

Die manchmal problematischen, zum großen, kompakten Klang und zur harmonischen Synthese tendierenden Kompositionen der siebziger und achtziger Jahre zeigen aus historischer Distanz ebenfalls überraschend neue Aspekte. So etwa Wojciech Kilars „Upstairs-Downstairs“ von 1971, eine minimalistische Studie für zwei Kinderchöre und Orchester, in der eine Viertelstunde lang fast nichts passiert: ein stehender Terzklang, der subtil variiert und unterschiedlich eingefärbt wird und zu einer immer intensiveren Raumwahrnehmung führt.

Die Kraft einer Mobilisierung von innen heraus, die mit solchen Werken begann und sich während der Solidaritätsbewegung um 1980 zur militanten Hymnik auswuchs, ist spätestens in den neunziger Jahren verpufft, doch scheint es gegenwärtig Recycling-Versuche zu geben. Die jetzt uraufgeführte Vierte Sinfonie von Alexander Lason zum Beispiel ist ein mächtig aufgeblasener sinfonischer Zombie auf tönernen Füßen. Unvergleichlich lebendigere Premieren erlebten das ebenfalls massige, vor Energie aber aus allen Nähten platzende Orchesterstück „Heaps“ von Jerzy Kornowicz, das vielfarbig leuchtende Ensemblewerk „The Valley of Dry Water“ von Tadeusz Wielecki oder auch die von Joseph Conrad inspirierte Orchesterkomposition „things lost, things invisible“ von Ewa Trebacz, die allerdings in der Großform etwas ziellos wirkte.

Das Werk erklang in dem von Arturo Tamayo geleiteten Gastkonzert des Orchesters der Musikakademie Kattowitz, das mit Iannis Xenakis’ „Nomos Gamma“ für achtundneunzig im Publikum verstreute Musiker Begeisterungsstürme auslöste. Ein ähnlicher Erfolg war dem von  SWR-Sinfonieorchester beschieden. Unter der Leitung von Rupert Huber behandelte es die fein gearbeiteten neuen Werke von Klaus Huber (Quod est pax? – Vers la raison du cœur...) und Bettina Skrzypczak (initial) mit lässiger Könnerschaft und konzentrierte sich ganz auf ein Repertoirestück, die kolossale Geräuschklang-Komposition „Schreiben“ von Helmut Lachenmann, die es mit der Gewalt des Walkürenritts über das Publikum hereinbrechen ließ – sehr zum Gefallen der jüngeren Zuhörer. In Warschau liebt man es mit Fleisch an den avantgardistischen Knochen.

Mit ihrem durchweg hohen Interpretationsniveau sorgten die Orchester- und Ensemblekonzerte für zahlreiche Festival-Highlights, wobei die Unterschiede zwischen West und Ost zunehmend schrumpfen. Noch behauptet zwar das von Beat Furrer dirigierte Klangforum Wien einen Spitzenplatz, zumal wenn es mit Furrers „Fama-Szenen“ und dem fulminanten Ensemblestück „Hayagriva“ des in Englands lebenden Inders Param Vir auftritt. Und auch die Wiedergabe von Hugues Dufourts groß dimensioniertem, harmonisch und farblich fesselndem Ensemblewerk La maison du sourd mit dem phänomenalen Flöstisten Fabrice Jünger und dem Ensemble Orchestral Contemporain aus Lyon unter der Leitung von Daniel Kawka markierte einen interpretatorischen Höhepunkt des Festivals.

Doch hauseigene Formationen wie die junge, unter Rüdiger Bohn hochmotiviert musizierende Polnisch-Deutsche Ensemblewerkstatt, die Sinfonia Varsovia oder das in Schlesien beheimatete, von Marek Mos geleitete Aukso-Kammerorchester können mit der internationalen Konkurrenz mühelos mithalten. Die Herausbildung neuer Interpretationsstandards gehört zu den langfristigen Zielen des an Zukunftsperspektiven reichen Festivals.

© Max Nyffeler, Oktober 2007

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