Warschauer Herbst mit Zukunftsperspektiven

Das traditionsreiche Musikfestival entfaltet rege kulturpolitische Aktivitäten

Über das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland, das im Herbst 2003 durch die Pläne eines Berliner Zentrums für Vertriebene wieder einmal arg strapaziert wird, gibt es gelegentlich auch positive Dinge zu berichten. Dazu gehören neue Initiativen im Bereich der Musik, darunter die Gründung eines jungen deutsch-polnischen Ensembles, das nun in Warschau erstmals auftrat.

Schauplatz des erfolgreichen Kooperationsprojekts, das auf deutscher Seite vom Deutschen Musikrat getragen und vom Goethe-Institut sowie vom Auswärtigen Amt unterstützt wurde, war das internationale Musikfestival Warschauer Herbst. Sechs Tage lang hatten die jungen Musikerinnen und Musiker aus Deutschland und Polen – darunter Mitglieder der Jungen Deutschen Philharmonie und des polnischen Kwartludium Ensemble – unter der befeuernden Leitung des Berliner Dirigenten Rüdiger Bohn die Stücke in öffentlichen Proben einstudiert. Das vom Polnischen Radio live übertragene Konzert vereinigte Werke der unterschiedlichsten Provenienz. Die ältesten waren Helmut Lachenmanns "Mouvement – vor der Erstarrung" und "Dérive 1" von Pierre Boulez, das jüngste eine Uraufführung der 26-jährigen Polin Aleksandra Gryka. Dazwischen das verhaltene Ensemblestück "Traumkraut" von Annette Schlünz, der poetisch-ausdrucksstarke Vokalzyklus "Miroirs" von Bettina Skrzypczak mit der Solistin Mireille Capelle und York Höllers fulminantes "Extempore".

Gutnachbarliche Zusammenarbeit verband sich in diesem viel beachteten Konzert mit künstlerischer Spitzenqualität und dem erklärten Willen aller Beteiligten zum Weitermachen. Das Warschauer Festival ist an einer Residenz des Ensembles interessiert, und die Möglichkeit eines ersten Deutschlandauftritts ergibt sich vielleicht schon bei den nächsten Darmstädter Ferienkursen, wo ein Schwerpunkt Polen geplant ist.

Europäische Kooperationsprojekte

Eingebettet war diese Ensemblepremiere in eine längerfristige Politik der gegenseitigen Annäherung, für die auf deutscher Seite der Deutsche Musikrat federführend ist. Seit 2001 treffen sich im Rahmen des Warschauer Herbstfestivals Veranstalter, Musikpolitiker und Journalisten beider Länder, um Formen einer künftigen Zusammenarbeit zu erörtern. Neben dem Ensembleprojekt nimmt demnächst ein weiteres Vorhaben Gestalt an: Mit Unterstützung der Siemens-Musikstiftung lädt der Musikrat einige junge polnische Musikjournalisten zu mehrmonatigen Arbeitsaufenthalten in deutsche Zeitungsredaktionen ein.

Diesmal waren in Warschau auch Vertreter aus Ungarn, Tschechien und Litauen dabei. Als nächstes Ziel plant man die Einrichtung einer Musikbürgschaft aus EU-Geldern, mit der die Musikfestivals in den Beitrittsländern das finanzielle Risiko verringern können. Auch Mitglieder des Deutsch-Französischen Kulturrats waren erschienen, womit das politische "Weimarer Dreieck" Frankreich-Deutschland-Polen vielleicht auch die längst fällige kulturelle Erweiterung erfahren könnte. Es riecht irgendwie nach Zukunft im Umfeld des Warschauer Herbstfestivals, Ansätze zu internationalen Netzwerkstrukturen werden sichtbar. Auch Österreich, das in Warschau ein festes Kulturbüro eröffnet hat, möchte mit von der Partie sein. Die Schweizer haben mit Pro Helvetia, die auch in diesem Jahr einen Konzertzuschuss zahlte, noch einen Fuss in der Tür.

Durch solche Aktivitäten wächst der Warschauer Herbst langsam in die neue Rolle einer internationalen Drehscheibe hinein. In der Zeit des Sozialismus war er das auch schon gewesen, wenn auch mit anderer Funktion. 1957 als Reaktion auf die einsetzende Entstalinisierung gegründet, bildete er bis 1990 im Ostblock das einzige freie Fenster zur internationalen Avantgarde. Trotz widriger politischer Umstände waren es Jahre der künstlerischen Blüte. Nach 1990 folgte dann die Krise: Die Sonderrolle war dahin, die staatlichen Zuschüsse wurden drastisch reduziert und private Gelder gab es kaum. Programme mit internationaler Beteiligung konnten nur durch finanzielle Hilfen aus dem Ausland realisiert werden.

Öffnung zu neuen Publikumsschichten

Nun macht sich eine neue Aufbruchsstimmung breit. Auch im Inland bemüht sich das Festival unter seinem Direktor Tadeusz Wielecki, sich in der Öffentlichkeit neu zu positionieren. Neue Publikumsschichten werden angesprochen, mit unkonventionelle Werbemethoden Scharen von Schülern und Studenten in die Veranstaltungen gelockt. Diesmal hat sich auch das Fernsehen mit Werbespots engagiert und ein Konzert mit multimedialen Kompositionen der jungen und jüngsten Generation koproduziert. Der Raum des für seine experimentellen Aufführungen bekannten Rozmaitosci-Theaters wurde dazu in ein durchcomputerisiertes Aufnahmestudio verwandelt, mit über den Köpfen kreisenden Kameras, Grossbildschirmen und Light-Show. Das Medium war wieder einmal die Botschaft, die die Musik beinahe aufschluckte. Die aufgeräumte Stimmung im Saal bis weit über Mitternacht hinaus zeigte jedoch, dass solche Veranstaltungsformen den Nerv eines jungen Publikums treffen – vom Werbeeffekt der Fernsehsendung für das Festival ganz zu schweigen.

Unterschiedliche Altmeister

Bei allen Schritten in programmatisches Neuland bleibt die "klassische" Vermittlung neuer Musik in Form von Orchester- und Ensemblekonzerten ein gewichtiger Bestandteil des Warschauer Festivals. Die Gastspiele internationaler Solisten und Ensembles garantieren einen abwechslungsreichen Programm-Mix mit hohem Informationswert. Auch die polnischen Altmeister kommen immer wieder mit Uraufführungen zum Zug. Von Wlodimierz Kotonski, einem Pionier der elektronischen Musik, erklang ein reichlich akademisches Klarinettenkonzert, wohingegen Boguslaw Schaeffer mit einem in Konzeption und Klang originellen Violinkonzert auffiel. Nur am Rande vertreten war Penderecki. Er hat sich in eine unerspriessliche Polemik mit den Jüngeren verwickelt und ist auch zum Warschauer Herbst offen auf Konfrontationskurs gegangen.

© Max Nyffeler (Okt/2003)

Eine Printversion dieses Textes ist am 18.10.2003 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.

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