Neue Wege des Hörens?Gedankengänge zwischen Konzertsaal und KlangkunstSeit John Cages europäischen Auftritten in den fünfziger Jahren rumort es gewaltig in der deutschen Musikszene. Die geschlossene Form des Kunstwerks wurde aufgebrochen, das Geräusch trat ebenbürtig neben den Klang, die traditionelle Frontalanordnung Bühne/Zuschauerraum öffnete sich zum multidirektionalen Klangraum. Die in "Musicircus" kulminierenden Konzepte Cages, in denen Zeit und Raum nur noch als Container für eine beliebige Art und Anzahl von beliebig langen Aktionen dienten, markierten den Extrempunkt dieser Tendenzen. Sie wurden von Teilen der westdeutschen Avantgarde der sechziger und siebziger Jahre aufgegriffen und als Modell einer neuen Kunstpraxis verstanden, die nicht nur von der vorherrschenden seriellen Kopflastigkeit frei sein sollte, sondern auch von allem historischen Ballast und akademischen Plunder. "Freisetzung" hieß das Wort der Stunde: Freisetzung des Materials, des Interpreten, des Publikums, und am Horizont dämmerte der Silberstreif einer Gesellschaft, die, so hoffte man, vielleicht eines Tages durch ebendiese ästhetischen Modelle in einen Zustand fröhlicher Herrschaftsfreiheit versetzt werden könnte. Lang ist's her. Der gesellschaftskritische Impuls der antiautoritären Musikexerzitien verpuffte alsbald, das Komponieren von Sinfonien galt wieder als Gebot der Stunde, John Cage selbst wurde zur Ikone stilisiert und bis zu seinem Tod von seinen kritiklosen Anbetern gnadenlos an den internationalen Festivals herumgereicht. Seine Modelle lustvoller Destruktion sind heute ebenso Geschichte wie die Aktionen der Fluxus-Bewegung. Doch in geänderter Form spuken sie hierzulande erneut durch die Landschaft. Der einstige radikal negatorische Impuls hat sich in kluge und konstruktive Konzepte verwandelt, die anarchistische Lust in theoretisches Stirnrunzeln. Die provozierenden Klänge wurden als situative Beschallung aller Art domestiziert. Das Erbe hat inzwischen in manche Veranstaltungsreihen neuer Musik Einzug gehalten, wo es unter dem Etikett von Klangkunst und Klanginstallation neben den Aufführungen mit notierter Musik einen kleinen, aber festen Platz erobert hat. Das Nebeneinander trägt zumeist Züge einer friedlichen Koexistenz. Zwar hat es auch schon vereinzelt Stimmen gegeben, die nach altvertrauter Fortschrittsideologie bereits das Ende des durchkomponierten Kunstwerks diagnostizierten, an dessen Stelle nun die Klangkunst treten sollte. Doch sind, abgesehen von der grundsätzlichen Fragwürdigkeit eines solchen Denkens, die beiden künstlerischen Ausdrucksformen viel zu weit voneinander entfernt, als dass die eine in der andern je aufgehen könnte. Berührungspunkte, Überschneidungen und Analogien sind indes vorhanden, und gerade in ihrem Nebeneinander treten die Möglichkeiten und Defizite beider Seiten klarer hervor. Vom Expertenhörer zum FlaneurWas heute unter dem designerhaften Titel "Klangkunst" daherkommt, kann als Reflex auf eine Konzertsaal-Avantgarde gesehen werden, deren strukturbezogenes Denken immer wieder zur Selbstreferentialität tendiert und neuen Publikumsschichten den Zugang notorisch erschwert. Eine Klangskulptur im Freien oder ein begehbarer Schallraum öffnet die hermetische Kunstsphäre zum Alltag und ermöglicht eine zwanglose Wahrnehmung. Der adornosche Hörertyp des Experten, an den sich die komponierte Musik bei aller gewonnenen Flexibilität noch immer richtet, wird dann vom Flaneur abgelöst. Das kommt auch den veränderten Hörgewohnheiten der nachrückenden Generation entgegen. Viele junge, musikinteressierte Hörer sind mit Walkman und Computer besser vertraut als mit Klavier und Streichquartett. Bei ihnen geht Sound vor Struktur, beiläufiges Hören vor Notenlesen, Konsum vor Eigenaktivität. Symptom des Niedergangs musikalischer Bildung, wenn nicht von Kultur überhaupt? Vielleicht. Eine Gesellschaft, die das bewusste Hören nicht mehr zu leisten vermag, also eine über Jahrhunderte zu höchster Differenzierung gebrachte Sinnestätigkeit leichtfertig als unzeitgemäß abtut, verzichtet auf ein wesentliches Moment der Erkenntnis äußerer und innerer Wirklichkeit. Und es gibt Anzeichen, dass dieser Prozess im Gang ist. Doch ein Lamento über einen Kulturzerfall wäre voreilig. Höhere Bewusstseinsstufen waren in keiner Gesellschaft Allgemeingut, und gerade in einer pluralistischen Demokratie ist es jedermanns Recht, seine eigenen kulturellen Vorlieben zu pflegen, ob dies nun Fußball, Klanginstallation oder Liederabend sei. Die Differenzierung von musikalischer Sprache und Wahrnehmung, für die ein Streichquartett von Haydn oder ein Orchesterstück von Schönberg modellhaft steht, wird zweifellos nie "die Massen ergreifen", wie die alte marxistische Traumformel lautet. Aber ebenso wenig wird sie je verschwinden, da es immer Menschen geben wird, die daran festhalten. Andererseits gibt es auch in den neuen Formen von situativer Beschallung genügend Ansätze, die auf eine bewusste Wahrnehmung abzielen. Auf eine Wahrnehmung allerdings, die nicht mehr auf den hörenden Nachvollzug von musikalischen Binnenstrukturen und Formverläufen ausgerichtet ist, sondern auf die durch den Klang vermittelte Eigenbefindlichkeit in Raum und Zeit. Diese Art von Wahrnehmung kann mithin Vehikel einer symbolischen Standortbestimmung des Ichs in der Welt sein. Zurück zur reinen WahrnehmungDoch gerade die Symbolhaftigkeit, bei der das Kunstwerk als Zeichen für etwas anderes steht, soll nach Auffassung der Klangkunst-Anhänger tunlichst vermieden werden. Das ist für sie eine Eigenschaft der "alten" Konzertmusik. Sie wollen Klang als reines Wahrnehmungsphänomen behandelt wissen. In Anlehnung Pierre Schaeffer, den Pionier der Musique concrète, betrachten sie Klang als "objet musical". Oder wie es Trevor Wishart ausdrückt: "Ein Klang ist ein Klang ist ein Klang." Er kann aber auch Mittel zum Zweck der Raumerfahrung sein, "architektonisches Material" (Helga de la Motte-Haber). Wo die Objekthaftigkeit des Klangs betont wird, rückt Musik in die Nähe zur bildenden Kunst, die Methoden der Formgestaltung nähern sich der skulpturalen Arbeit. Interessant aus dieser Sicht ist nicht die Frage: "Was will uns das Opus sagen?", sondern "Wie werden Raum und Zeit erfahrbar gemacht?" Der tradierte musikalische Werkbegriff löst sich somit gleichsam von selbst auf, wie weiland bei Cage, Fluxus und Concept Art. Das Kunstwerk, wenn es denn noch so geheißen werden will, verflüchtigt sich zum abstrakten Wahrnehmungsmodus, umso mehr, als zur Klangerzeugung meist nicht lebendige Musiker, sondern Apparate benötigt werden, mit denen lange andauernde Klangprozesse mühelos und gewerkschaftsfrei produziert werden können. Wo der Autor nicht selbst als Teil einer Performance mitwirkt, verschwindet er als Subjekt hinter seinem Produkt, das, einmal installiert, sich selbst reproduziert und "einfach da ist" ganz anders als das komponierte Werk, das einem komplizierten arbeitsteiligen Reproduktionsmechanismus in Echtzeit unterliegt. Verlust der KörperlichkeitIn der Loslösung vom konkreten, körperbezogenen Musikmachen liegt aber auch eine Gefahr. Wo Schwingungsverhältnisse, offene Regelsysteme oder Reaktionsketten zum voraus disponiert und zur Materialisierung den technischen Medien überlassen werden, wird der Rezipient auf Distanz gehalten, auch da, wo er sich im Klangraum bewegt und durch die wechselnde Perspektive "sich sein Kunstwerk fortwährend selbst erschafft", wie ein verbreitetes Desiderat lautet. Ohne Körperpräsenz ist die "Anmutung" eines Klangkunstwerks abstrakt und in der Wirkung vergleichsweise schwach. Sie wird von jedem Boccherini-Streichquartett übertroffen, ganz zu schweigen vom gewaltigen Energieschub, den ein Orchesterstück von Xenakis oder auch nur die Aktion eines Hespos'schen Klangarbeiters zu entfesseln vermag. Wo es um klingende Kunst geht, ist Körperpräsenz durch nichts zu ersetzen. Sie ist die Wurzel der rituellen, gemeinschaftsbildenden Kraft des Musikmachens, vom Rockkonzert, wo sie trotz gigantischem Medienaufwand noch immer den Kern des Spektakels ausmacht, bis zur entfremdeten Konzertsaalsituation in der Klassik. Den Gegenbeweis liefern die frühen Erfahrungen mit Konzerten elektronischer Musik, wo die Veranstalter schnell merkten, dass reine Lautsprecherkonzerte auf die Aufmerksamkeit des Publikums lähmend wirken. Die Klanginstallateure ziehen daraus die Konsequenz und suchen die Nähe zur visuellen Kunst und ihren Rezeptionsmechanismen, wobei dann freilich an ihre Bild- und Formensprache sehr hohe Erwartungen gestellt werden. Vieler Produkte haben deshalb einen Zwittercharakter: Sie sind im Niemandsland zwischen Musik und bildender Kunst angesiedelt und haben es schwer, ein Publikum zu finden. Mit der Tendenz zur pseudowissenschaftliche Versuchsanordnung Erforschung der Wahrnehmungsmodalitäten und dem Verzicht auf subjektiven Ausdruck und Rhetorik gerät der Klangkunst noch etwas anderes leicht aus dem Blickfeld: Die Aufgabe der Kunst, zu bewegen und zu beunruhigen. Allzu häufig erschöpfen sich die fein abgezirkelten Klanginstallationen, Beschallungen und Klangskulpturen im Ausstellen ihres nicht sonderlich vielfältigen Materials, das dann bestenfalls einen angenehmen Kontrast zum banalen Umfeld schafft und einen milden V-Effekt auslöst. Nur wenige erreichen die zeichenhafte Präzision und nachhaltige Wirkung der Arbeiten etwa eines Alvin Lucier. Die Grenze zum klingenden Wellness-Angebot, das der Rezipient schlendernd auf sich wirken lässt wie der Tourist den bunten Beduinenmarkt von Djerba, ist oft fließend. Umtriebige TheorieproduzentenIm Widerspruch zur oft bescheidenen künstlerischen Aussagekraft steht der respektable theoretische Überbau. Wie schon bei der Konzeptkunst bildet auch hier das Experiment im Zwischenbereich der Künste einen Katalysator für zahlreiche philosophische und wahrnehmungspsychologische Überlegungen, für Reflexionen über neue Funktionen von Kunst, für Vermutungen über das wieder einmal endgültige Verschwinden des Subjekts und andere umstürzende Perspektiven. Eine Welt des diskursiven Argumentierens, in der verständlicherweise die Grenzen zwischen Theorie, Wunschdenken und Selbstpropaganda gerne verschwimmen. In der theoretischen Umtriebigkeit artikuliert sich indes ein verstecktes Bedürfnis, das allen, die in Kunst mehr als ein Handelsobjekt sehen, geläufig sein dürfte: Die Suche nach kunstspezifischen Antworten auf die Fragen unserer heutigen Existenz. Damit verbindet sich der Wunsch nach einer neuen Verbindlichkeit des Kunstwerks. Die Künstler, die mit dem Mittel des Klangs neue Räume, Wahrnehmungsmodi und Erlebnisqualitäten erforschen, stehen heute erst am Anfang einer langen Entwicklung. Wenn sie einmal dorthin gelangt sind, wo die komponierte Musik dank ihrer entfalteten Grammatik schon angekommen ist, werden sie in der Lage sein, mit den von ihnen geschaffenen Mitteln neue Antworten auf die alten Fragen zu geben. An der Theorie wäre es, den Weg dorthin zu ebnen. © 2002 Max Nyffeler Printveröffentlichung (leicht gekürzt): Programmheft der Wittener Tage für neue Kammermusik 2002 Themen Inhalt
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