Beethoven und Schönberg:

3. Sternstunden der Kritik

 

Walter Levin:  Ich möchte gerne einige Kritiken über Beethoven und über Schönberg miteinander vergleichen. Zunächst zwei Kritiken über Beethoven. Die erste, erschienen 1806 in "Der Freimütige" in Berlin, stammt vom Herausgeber dieser Zeitschrift, dem hoch gebildeten und zugleich erzkonservativen August von Kotzebue:
 
"Vor kurzem wurde die Ouvertüre zu Beethovens Oper Fidelio gegeben, und alle parteilosen Musikkenner und Musikfreunde waren darüber vollkommen einig, dass so etwas Unzusammenhängendes, Grelles, Verworrenes, das Ohr Empörendes schlechterdings noch nie in der Musik geschrieben worden. Die schneidendsten Modulationen folgen aufeinander in wirklich grässlicher Harmonie und einige kleinliche Ideen vollenden den unangenehmen betäubenden Eindruck."

James Levine:  Hört sich an wie eine aktuelle Kritik.

Walter Levin:  Das hätte man auch über die Große Fuge schreiben können. Oder über ein Stück von Schönberg. Aber über die Fidelio-Ouvertüre? Da fragt man sich doch: Was hat der denn gehört?

James Levine:  Um über ein neues Stück kompetent zu urteilen, müsste sich auch ein Fachmann mehr Zeit nehmen können, als er im täglichen Betrieb zur Verfügung hat.

Walter Levin:  Wenn man so eine Kritik liest, wird einem klar, warum Schönberg dem Kolisch Quartett empfohlen hat, einem seiner Quartette immer die Große Fuge voranzustellen, denn im Vergleich dazu würde sich dann sein Quartett geradezu klassisch anhören. Und nun die andere Kritik, und zwar über eben diese Große Fuge. Die ist wohlwollender. Der Mann, der sie geschrieben hat, hat das Stück zwar auch nicht verstanden, aber er findet es deswegen nicht unsinnig, sondern er schreibt einfach, dass er Probleme damit hat. Diese Kritik ist in der Leipziger Allgemeinen Zeitung von 1826, also zwanzig Jahre später, erschienen:
 
"Aber den Sinn des fugirten Finale wagt Referent nicht zu deuten. Für ihn war es unverständlich, wie Chinesisch."
 
Seltsam, wenn Kritiker etwas nicht verstehen, dann ist es für sie immer Chinesisch. Weiter:
 
"Wenn die Instrumente in den Regionen des Süd- und Nordpols mit ungeheuern Schwierigkeiten zu kämpfen haben, wenn jedes derselben anders figuriert und sie sich per transitum irregularem unter einer Unzahl von Dissonanzen durchkreuzen, wenn die Spieler, gegen sich selbst misstrauisch, wohl auch nicht ganz rein greifen, freylich, dann ist die babylonische Verwirrung fertig; dann gibt es ein Concert, woran sich allenfalls die Marokkaner ergötzen können."
 
Marokkaner scheinen sich also nur im Chaos wohlzufühlen, während wir westlichen, zivilisierten Menschen darüber stehen!

James Levine:  Diese Art Kritik hat lange nachgewirkt und weitere Aufführungen der Großen Fuge auf Jahrzehnte hinaus verhindert.

Walter Levin:  Selbst 1884, also sechzig Jahre nach der Entstehung der Großen Fuge, schrieb Hugo Wolf als Kritiker in Wien:
 
"Die Große Fuge ist ein mir unverständliches Tonstück."
 
Ich bitte dich, er war Komponist, der moderne Musik geschrieben hat. Seltsam! Aber es gibt ja auch die Reaktionen von Komponisten wie z. B. Strawinsky auf die Große Fuge, der anlässlich seines 80. Geburtstags in einem Interview im London Observer sagte:
 
"Jetzt, da ich achtzig bin, habe ich neue Freude an Beethoven gefunden. Die Große Fuge zum Beispiel scheint mir heute das perfekteste Wunderwerk in der Musik. Es ist auch das absolut Zeitgenössischste aller Stücke, die ich kenne, und bleibt für immer zeitgenössisch. Kaum von ihrem Alter gezeichnet, ist die Große Fuge im Rhythmischen allein subtiler als alle Musik meines eigenen Jahrhunderts. Ich liebe sie über alles."
 
Das ist interessant. Für Strawinsky ist die Große Fuge nicht nur das modernste Werk der Musikgeschichte, sondern sie wird es auch immer bleiben. Das halte ich für wichtig im Zusammenhang mit dem, womit wir uns hier befassen. Was will er damit sagen? Dass nämlich große Musik sich den Konventionen ihrer Zeit widersetzt, und dass das ihre zeitlose Aktualität ausmacht. Die Spannung bleibt unvermindert erhalten. – Und nun eine Kritik zur Uraufführung von Schönbergs zweitem Streichquartett. Gewiss, in den letzten beiden Sätzen ist ein Sopran dabei, und das war neu, jedenfalls in der Kammermusik.

James Levine:  In der Sinfonik hat Beethoven diesen Schritt ja bereits in seiner Neunten gemacht.

Walter Levin:  Und zur Neunten gab es damals Kommentare nicht unähnlich dem folgenden über Schönbergs zweites Quartett, der im Neuen Wiener Abendblatt am 24.12.1908 erschienen ist:
 
"Von unserer Neugierde aber, den Komponisten Arnold Schönberg endlich einmal kennen zu lernen, hat uns ein angeblich in Fis-Moll stehendes Streichquartett dieses Herrn, das im Roséquartett seine 'Uraufführung' mit knapper Not erlebte, gründlich kuriert. Wie das Erscheinen dieser Katzenmusik aus einem künstlerischen in ein lokales Ereignis umschlug, da es einen beispiellosen Skandal provoziert, so ist auch die Komposition und ihre Art kein ästhetischer, sondern ein pathologischer Fall. Zur Ehre des Komponisten wollen wir annehmen, dass er klangtaub, also musikalisch unzurechnungsfähig ist und nicht weiß, an welchem beklagenswerten Übel er leidet. Sonst müsste das Quartett als grober musikalischer Unfug qualifiziert und sein Verfasser von der Sanitätspolizei in Anklagezustand versetzt werden."
 
Ich bitte dich!

James Levine:  Es ist doch immer wieder verblüffend, wie sich die Leute darum reißen, über Dinge zu schreiben, von denen sie wenig Ahnung haben. Da frage ich mich: Warum diese vorschnellen Meinungen? Ich verstehe nicht, wozu das gut sein soll. Das gibt es manchmal auch bei ausübenden Musikern, aber zum Glück nicht oft. Meistens, wenn sie etwas nicht gleich packen, knien sie sich erst recht hinein, weil sie es wirklich verstehen wollen.

Walter Levin:  Bei Kritiken ist es äußerst selten, dass jemand sagt: "Ich, der Kritiker, muss zugeben, dass ich nicht in der Lage war, dem Ganzen zu folgen oder es zu verstehen - aber das soll kein Urteil sein über das Stück." Ist es denn wirklich notwendig, eine Interpretation oder eine Komposition in einem Blitzurteil abzuhandeln? Ich meine, es gibt Leute ...

James Levine:  ... die zu Konzerten gehen und die ganze Zeit über zu formulieren versuchen, was sie von dem Stück halten sollen, das sie noch nie zuvor gehört haben. Im 20. Jahrhundert erreichte dieser Konflikt wirklich einen Höhepunkt bzw. einen Tiefpunkt – die Künstler in dem einen Lager und die Kritiker im anderen. Und das Publikum weiß nicht, was es davon halten soll

 

4. Biografische Verwerfungen
Beethoven und Schönberg: Inhaltsverzeichnis 

 

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