Neue Musik, das Alte Europa und die Globalisierung

Befinden wir uns auf dem Weg zu einem musikalische Polyzentrismus?

Wir sind gegenwärtig Zeugen dramatischer Veränderungen im Verhältnis Europas zu den andern Weltregionen – wirtschaftlich, politisch, kulturell. Die Zeiten sind vorbei, da wir uns im Bewusstsein unserer Dominanz das Fremde nach Lust und Laune selektiv aneignen konnten. Der „edle Wilde“ als Ornament unserer zivilisierten Lebenswelt hat ausgedient. Andere Kulturen sind für uns keine freien Optionen mehr, sondern es sind Realitäten geworden, die uns bedrängen und zur Stellungnahme herausfordern. Dies gilt vor allem für den Islam, der sich im Inneren unserer Gesellschaft unmerklich einen festen Platz erobert hat. Noch wissen wir nicht, wie mit dieser Situation umzugehen ist, doch eines ist klar geworden: Der zunehmende Druck zwingt uns, den bisherigen Zustand der Nichtwahrnehmung zu beenden und uns zu fragen, was wir überhaupt wollen. Beziehungsweise noch wollen können. Denn mit seiner jetzigen Orientierungslosigkeit präsentiert sich Europa als Loser. Während in unserer säkularisierten Gesellschaft kulturelle Kontroversen sich bestenfalls noch um die Frage drehen, ob auf der Theaterbühne onaniert werden soll oder nicht, stehen auf der andern Seite Gesellschaften, deren ungeheure soziale Dynamik in einer religiösen Überzeugung wurzelt, der wir nichts mehr entgegenstellen können. Die Preisfrage des nächsten Jahrzehnts ist deshalb, ob die freiheitlichen Werte der Toleranz und Offenheit mitsamt ihren trivialisierten Formen des Laisser faire und Anything goes noch hinreichen, um unsere kulturelle Existenz zu sichern, oder ob nicht gerade diese Werte, wenn sie von ihren ethischen Voraussetzungen losgelöst werden, von den Feinden der Toleranz als Einfallstor genutzt werden, um ihre Auffassungen durchzusetzen.

Die neue Musik Europas ist von solchen Kämpfen bisher verschont geblieben. Sie hat sich im Gegenteil immer wieder als Medium einer unvoreingenommenen Neugier und Aufgeschlossenheit gegenüber dem Anderen erwiesen, bei allen Tendenzen, sich in den (west)europäischen Elfenbeinturm zurückzuziehen. Die Öffnung setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Hier nur drei Beispiele: Messiaens Adaption indischer Rhythmen, Stockhausens utopische Vision einer „Musik der ganzen Erde, aller Länder und Rassen“ in „Telemusik“ und die Werke, die Nono in den sechziger Jahren unter dem Einfluss des antiimperialistischen Kulturkritikers Frantz Fanon schrieb. Es sind drei in ihrer Verschiedenheit sehr markante Ansätze zu einem langfristigen Perspektivenwechsel. Eine Fortsetzung fanden sie später in Klaus Hubers Oratorium „Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet“ und in seiner Hinwendung zur arabischen Musiktradition.

Mit solchen Ausbruchsversuchen aus der kulturellen Festung Europa korrespondierten Auflösungstendenzen von außen. John Cage stellte mit seinem fernöstlich inspirierten Prinzip der Entsubjektivierung den europäischen Kulturbegriff radikal in Frage. In Lateinamerika erwachte ein starkes regionales Kulturbewusstsein, das sich in Opposition zur „Ersten Welt“ definierte. Und um 1970 schuf Steve Reich mit seiner minimalistischen pattern music vielleicht das erste Modell einer Musik der Globalisierungsmoderne: Klangrohstoffe aus den Drittweltregionen Afrika und Indonesien werden zu einem qualitativ hochwertigen Produkt umgeformt, das von der Produktionsweise her nicht mehr an nationale Traditionen gebunden ist und – ähnlich der Popmusik – weltweit auf gleiche Art rezipiert werden kann.

Die heutige internationale Situation ist gekennzeichnet durch eine Vielfalt der Positionen, was sich nicht zuletzt sich auch in der Zusammensetzung und der Programmpolitik der IGNM spiegelt. Der Polyzentrismus nimmt zunehmend Gestalt an, wobei vor allem die wirtschaftlich starke Region Fernost an Einfluss gewinnt. Eine neue Generation chinesischer Komponisten, der Japaner Toshio Hosokawa, die chinesische Australierin Liza Lim, aber auch Younghi Pagh-Paan, die trotz dreißig Jahren Europaaufenthalt ihren koreanischen Wurzeln treu geblieben ist – sie und viele andere zeigen, dass sich die Methode auch umkehren lässt: Europa als Stimulans für die Herausbildung einer eigenen musikalischen Gegenwartskultur. Diese ist zwar international vernetzt, aber tief in den eigenen Traditionen verwurzelt. Der islamische Kulturraum steht, von Ausnahmen abgesehen, noch weitgehend abseits – auch hier also ein Nachholbedarf, und zwar von beiden Seiten.

Wohin dieser Wandel der Kräfteverhältnisse auf Dauer führt, ist nicht abzusehen. Ob Europa in einer global vernetzten Welt dereinst kulturell noch mitreden kann, oder ob es zum bedeutungslosen Wurmfortsatz eines eurasischen Megakontinents verkümmert, wird sich zeigen. Doch die Weichen der Entwicklung werden heute gestellt, und gefordert sind wir alle. Auch die Veranstalter: Mit einer offenen Programmpolitik vermögen sie einen Beitrag leisten zu einem weniger kriegerischen Neben- und Miteinander im globalen Konzert der Kulturen. Die Weltmusiktage 2006 können als Modell für eine solche neue Veranstalterpraxis betrachtet werden.

© 2006, Max Nyffeler

Beitrag zur Programmzeitschrift "Grenzenlos", World New Music Festival der IGNM in Stuttgart, Juli 2006.

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