Von Schönberg aus zurück in die Geschichte

Der Dirigent und Komponist Michael Gielen, porträtiert von Max Nyffeler

Angst vor unbequemen Wahrheiten hat Michael Gielen nie gehabt, und auch im Alter hat sich das nicht geändert. Im Sommer 2002, kurz nach seinem 75. Geburtstag, resümierte er seine sozialen und künstlerischen Erfahrungen mit den Worten (1):

Ich war immer ein Außenseiter in allen Belangen, seit der Schulklasse, wo ich nicht richtig reingehörte. Entweder als Halbjude oder als Deutscher in Argentinien. Es gab immer einen Grund, warum ich nicht in die Gemeinschaft gehörte. Und meine künstlerische Persönlichkeit ist auch nicht gerade pflegeleicht. Das weiß ich ja. Darum verlange ich auch gar nicht, geliebt zu werden. Aber es gibt doch eine Gemeinde, die sich das gerne anhört.

Dem allgemeinen Musikbetrieb stand er immer kritisch gegenüber, und entsprechend reserviert verhielten sich dessen Verwalter. In den Respekt für den metierbewussten, von einem hohen Ethos geleiteten Dirigenten, der über ein unerhört breites Repertoire von Bach bis zur Gegenwartsmusik verfügt, mischte sich stets eine Prise Misstrauen. Was ist von einem Künstler zu halten, der sich kompromisslos für die Moderne einsetzt und auch selbst komponiert, der bei den traditionellen Werken jeden faulen Kompromiss mit dem Massengeschmack vermeidet und sich darüber hinaus noch den Luxus leistet, die Bedingungen des eigenen Tuns kritisch zu reflektieren? So etwas kann abschreckend wirken – weniger auf das Publikum, das heute durchaus offen ist für neue Erfahrungen, als auf die an die Konventionen gefesselten Veranstalter und die großen Plattenlabels mit ihrer ewigen Angst vor Umsatzeinbußen.

Wenn die Idee, die einem ganzen Leben zugrunde liegt, keine kommerzielle ist, dann kann man ja nicht verlangen, dass die großen Firmen sich um einen reißen. Also ich bin ganz einverstanden mit diesen großen Firmen. Und ich bin eher überrascht über die Karriere, die ich gemacht habe.

Foto Michael GielenJemand, der sich nicht mit der Reproduktion des Bestehenden zufrieden gibt, muss da zwangläufig seine eigenen Wege suchen. Gleich zwei führten Gielen zur Musik des 20. Jahrhunderts. Da ist einmal der weniger bekannte Komponist Gielen, der rund zwei Dutzend Werke, meist für Kammermusik- und Ensemble-Besetzungen, verfasst hat. Und dann gibt es den international bekannten Dirigenten Gielen, der stets darauf geachtet hat, der neuen Musik den ihr gebührenden Platz einzuräumen, sei es im Theater, im Konzertsaal oder im Aufnahmestudio. Die Werke der zweiten Wiener Schule liegen ihm besonders am Herzen.

Mein Weg war ja nicht ein normaler. Ich habe nicht angefangen mit klassischer Musik, um dann über die Romantik zur Moderne zu kommen. Mein Ausgangspunkt war Schönberg, da war ich ganz drin. Als ich zu dirigieren anfing, wollte man von mir immer nur zeitgenössisches Repertoire haben. Schönberg war ja schon klassisch gegenüber all dem, wofür ich engagiert wurde. Da ich selber komponierte, empfand ich es eine ganz normale Verpflichtung, die Musik meiner Zeit aufzuführen.

Aber ich hätte mich als Musiker nicht entwickeln können, wenn ich mich nicht an den Meisterwerken der Vergangenheit hätte reiben können. Das muss man sich ja auch erarbeiten, das kann man nicht plötzlich. Deswegen bin ich den Veranstaltern in den Ohren gelegen: "Bitte lasst mich etwas anderes dirigieren". Und der Weg war dann von Schönberg rückwärts: erst Mahler, dann Bruckner, dann über Schumann und andere Romantiker endlich zu Beethoven. Beethoven ist eine zentrale Aufgabe meines Lebens geworden. Ich fand – und das war lange bevor alle diese kleinen Spezialensembles auftauchten – dass es da sehr viel zu korrigieren gab.

Tempi bei Beethoven

Beethoven wurde ja von allen viel zu langsam gespielt, und das hatte fatale Auswirkungen auf die Gesamtdarstellung. Wenn der erste Satz der Fünften statt mit dem von Beethoven angegebenen Metronom Halbe=108 (ganze Takte) – oder auch mit 100, was ja immer noch sehr schnell ist – nur mit 80 oder noch langsamer dirigiert wird, dann ist das Ganze ein anderes Stück. Dann klopft dauernd das Schicksal langsam an die Tür. Aber warum kann es denn nicht schnell klopfen? Es ist halt ungeduldig. Die Anweisung ist so eindeutig. Beethovens Metronome müssen ja nicht sklavisch nachvollzogen werden. Aber 108 heißt doch: "Das ist ein sehr schneller Satz." Oder der erste Satz der Dritten, der "Eroica": Das geht in Eins. Das ist unausweichlich, auch wenn man ab und zu Drei schlägt. Das Denken ist in ganzen Takten, und nur so wird dieser Riesensatz verständlich.

Gielens schnelle Tempi sind die Summe von Erfahrungen und Überlegungen, die wesentlich auf seine Beschäftigung mit der Musik der Wiener Schule zurück gehen. Heute sind solche Tempi nichts Ungewöhnliches mehr. Doch zu Beginn seiner Dirigentenkarriere hatten sie noch weit herum Kopfschütteln hervorgerufen.

Es hat ziemlich lange gedauert, bis ich mit diesem Problem mich so auseinander setzen konnte, dass ich nicht nur unglücklich war bei dem Resultat. Damals stieß ich natürlich auf großen Widerstand bei den Orchestern. In Frankfurt am Radio war Dr. Kulenkampff, der damalige Musikabteilungsleiter, der erste, der mir klassische Musik zu dirigieren gab. Zuerst gab er mir die Fünfte von Mahler und ich glaube schon im Jahr darauf, das war 1959 oder 60, die Eroica. Zuerst waren die Musiker natürlich schockiert und sagten, das sei alles viel zu schnell. Jahre später, bei einem Konzert in Baden-Baden, traf ich einen dieser Musiker, und er sagte: "Wissen Sie was? Bei allen, die jetzt kommen und Beethoven dirigieren, sagt das Orchester: Das ist doch alles zu langsam." – Sie haben eingesehen, dass man das Stück besser versteht mit den richtigen Tempi.

Manchem Klassikhörer mag Gielens bei aller Genauigkeit zügig musizierte, schlanke und unpathetische Beethoven gegen den Strich gehen. Sie vermissen darin die Bedeutungsschwere, die emphatisch erigierte Geste, den "kathedralenhaften Klang", wie Glenn Gould in Bezug auf die Konzertsaalästhetik einmal kritisch anmerkte – Eigenschaften, die sich seit der Ära der Spätromantik in Beethovens Musik eingeschlichen und auch im 20. Jahrhundert noch lange am Leben erhalten haben. Das hat wesentlich mit den falschen, und das heißt: zu langsamen Tempi zu tun, die Beethovens Sinfonien in den Händen vieler Dirigenten zu einer zähen Knetmasse und damit tatsächlich zu anderen Stücken gemacht haben – ein abschreckendes Beispiel ist die Fünfte bei Leonard Bernstein.

Ein Auslöser der Tempodiskussion, die die Beethoven-Interpretation in den letzten Jahrzehnten nachhaltig veränderte, war die grundlegende Schrift von Rudolf Kolisch, dem Leiter des Kolisch-Quartetts, über Tempo und Charakter in Beethovens Musik. Die 1943 in der amerikanischen Fachzeitschrift "The Musical Quarterly" veröffentlichte Untersuchung galt hier zu Lande lange als sagenumwobene Quelle für allerlei Querulantenmeinungen. Deutschsprachige Veröffentlichungen der Studie wurden hintertrieben, bis die Zeitschrift "Musik-Konzepte" 1992 sie endlich allgemein zugänglich machte. (2)

Seither kann sich jeder des Lesens Kundige hier informieren über die originalen Tempovorschriften Beethovens für seine Sinfonien 1 bis 8 und die Streichquartette bis op. 95. Und ebenfalls nachzuschlagen ist die Auflistung der Beethovenschen Satztypen, mit der Kolisch eine sehr brauchbare Diskussionsgrundlage zur Bestimmung der Tempi aller anderen Instrumentalwerke Beethovens geschaffen hat. Hilflose Einwände wie derjenige über das angeblich falsch gehende Metronom Beethovens sind inzwischen durch die Macht der Fakten und die geänderten Hörgewohnheiten ad absurdum geführt worden. Und dass das Tempo – nicht nur bei Beethoven – konstituierender Bestandteil eines Werks ist und dessen Charakter entscheidend prägt, scheint sich inzwischen auch herumgesprochen zu haben.

Nicht ganz unbeteiligt an diesem Paradigmenwechsel waren die Spezialensembles für alte Musik, die mit ihrem historisch-kritischen Interpretationsansatz die vorklassische Musik aus dem Dunstkreis romantischer Traditionspflege erfolgreich herausgelöst hatten und sich nun auch der Werke aus Klassik und Romantik anzunehmen begannen. Sie übertrugen ihre traditionskritischen Ideen und damit auch ihre Tempovorstellungen von der alten Musik auf das neue Repertoire. Dieser Prozess setzte in den achtziger Jahren ein. Damit wurde die Unart der verschleppten Tempi auf breiter Front wenn nicht ab-, so doch nachhaltig in Frage gestellt.

Die Fünfte bei Gielen, Strauss und Harnoncourt - ein Tempovergleich

Michael Gielen, der seit Beginn seiner Dirigententätigkeit für raschere Tempi bei Beethoven eingetreten war, wurde durch diese Ensembles sozusagen rechts überholt. Jahrelang hatte er mit seinen Auffassungen ziemlich allein auf weiter Flur gestanden. Und doch befand er sich, wie ein Vergleich von drei Aufnahmen von Beethovens fünfter Sinfonie zeigt, in guter Umgebung. (3) Nicht nur ein Zuchtmeister wie Toscanini hielt sich – wissentlich oder aus Intuition – ziemlich genau an Beethovens Originaltempi. Auch Richard Strauss befand sich auf dieser Linie, was sich seiner Aufnahme von 1928 entnehmen lässt. Zwar nahm Strauss im Kopfsatz das Tempo sehr elastisch und lud damit den musikalischen Verlauf dramatisch auf, was heute so nicht mehr gemacht würde. Doch in den Hauptsatzregionen erreichte seine brillante Interpretation genau Beethovens Metronomvorschrift Halbe=108.

Die über sechzig Jahre später entstandene Einspielung von Nikolaus Harnoncourt wirkt gegenüber dieser Aufnahme von Richard Strauss schon etwas bedächtiger, obwohl sie mit einem mittleren Tempo von 100 nur rund zwei Striche unter Beethovens Metronomzahl von 108 liegt, die bei Strauss Richtwert ist.

Dazwischen, jedoch näher an Strauss als an Harnoncourt, liegt Michael Gielen. Seine Interpretation ist strenger im Zeitmaß als die von Strauss. Von Harnoncourt, der die Details in der für ihn charakteristischen "sprechenden" Weise ausmusiziert, setzt er sich durch eine stärkere Betonung der großen Linie ab, was die formalen Zusammenhänge verdeutlicht. Das zeigt sich schon zu Beginn im sequenzierten Kopfmotiv mit den berühmten vier Noten: Während Harnoncourt beide Sequenzglieder gleich schwer spielt, so fügt sie Gielen zu einer übergreifenden Einheit, indem er die erste Fermate etwas kürzer macht als die zweite.

Was ist das "richtige Tempo"?

Stets die große Form im Blick behalten und zugleich das Detail vollkommen ausarbeiten, oder, mit anderen Worten, ein dialektisches Gleichgewicht zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen anstreben: Dieser Grundsatz, der für Beethovens Kompositionstechnik wie für diejenige von Schönberg gilt, hat auch die dirigentischen Auffassungen von Michael Gielen entscheidend geprägt. Eine Voraussetzung zum Erreichen dieses formalen Gleichgewichts liegt in der Wahl des richtigen Tempos. Dass dieses gar nicht immer am oberen Ende der möglichen Skala liegen muss, erläutert Gielen am Beispiel des Anfangs der Siebten von Anton Bruckner:

Ich glaube, ich bin ziemlich langsam im ersten Satz der Siebenten. Ich finde, es ist egal, wie schnell oder wie langsam das ist. Man hat sich darauf zu konzentrieren, wie der Gedanke dargestellt wird, und man muss die Kontinuität denken. Wenn der Gedanke 32 Takte lang ist, dann muss das Tempo schnell genug sein, dass man ihm folgen kann, dass man nicht schon nach dem zweiten Takt tief atmen muss, um überhaupt weiter hören zu können. Das ist dann zu langsam. Andererseits, wenn es nicht mehr möglich ist, innerhalb dieses Gedankens richtig zu artikulieren, dann ist das Tempo zu schnell. Also es richtet sich nach diesen zwei Kriterien: Zusammenhalt der Idee – oder des Satzes, des Opernaktes –, also das Formgefühl für das Ganze, und Artikulation des Details. Daraus ergibt sich das Tempo, wenn es nicht sowieso schon vorgeschrieben ist. Und ich glaube bei Bruckner gibt es ganz wenig Metronomzahlen.

Michael Gielen ist nicht erst durch die Beethoven-Studie von Rudolf Kolisch auf die Tempo-Problematik gestoßen. Obwohl sie ihn in seinen Überlegungen entscheidend weiter gebracht hat, war sie doch mehr eine Bestätigung dessen, was er in seiner Jugendzeit und Ausbildung zum Musiker gelernt hatte. Und das hatte wesentlich mit der Tradition des Wiener Schönberg-Kreises zu tun, mit dem er über seinen Onkel, den Pianisten Eduard Steuermann, sogar verwandtschaftlich verbunden war.

Erstens waren meine Lehrer in Buenos Aires aus der Schönberg-Schule. Ich hatte u.a. Analyse bei Polnauer betrieben, der Schönberg-Schüler war. Kolisch spukte auch noch in den Köpfen. Ich hatte Briefwechsel mit Steuermann über Interpretation. Nicht nur über meine Kompositionen gibt es einen Briefwechsel; auch wenn ich etwas spielte, fragte ich, und da gab's wohl auch Metronomangaben. Ich hatte gehört, dass damals in Wien im Verein für musikalische Privataufführungen Schönberg, Webern und Berg als Vortragsmeister exorbitant schnelle Tempi bei Beethoven anwandten, manchmal auch bei Mozart, wenn sie es für richtig hielten. Bei einem Teil der Werke von Beethoven hat Kolisch die Metronomzahlen per analogiam erschlossen, und ich denke, bei Mozart lässt sich das auch tun.

Als Beispiel für zu langsame Tempi, die sich bei Mozart eingebürgert haben, nenn Gielen die Sinfonie Es-dur KV 543. Er erinnert sich an eine Aufführung mit den Wiener Philharmonikern:

Vor acht Jahren wurde ich eingeladen, in der Mozart-Woche in Salzburg ein Konzert mit den Wiener Philharmonikern zu dirigieren, und da war die große Sinfonie Es-dur KV 543 im Programm. Eines dieser Interpretationsprinzipien, die von Kolisch allerdings nicht expressis verbis erwähnt werden, von denen ich aber felsenfest überzeugt bin, lautet: Die Einleitung verhält sich zum Allegro wie eins zu zwei. Das ist fast immer der Fall. Das bedeutet, dass in der Es-dur-Sinfonie die Einleitung ungefähr doppelt so schnell geht wie bei allen berühmten Dirigenten - Furtwängler, Böhm etc. Böhm dirigiert sie besonders langsam, in Achteln. Sie ist aber "alla breve" bezeichnet, und das ist schon ein Hinweis darauf, dass es nicht so langsam geht. Ein ähnlicher Fall ist ja die Einleitung zum ersten Satz der großen C-dur-Sinfonie von Schubert: Seit man weiß, dass da "alla breve" steht, spielt man sie mit gutem Gewissen doppelt so schnell. Aber Furtwängler und Böhm wussten ja nicht, dass über der Einleitung alla breve steht und wussten sich nicht anders zu helfen als mit dieser Feierlichkeit und dem großen Accelerando. – Also gut ich komme zurück zur Es-dur Sinfonie von Mozart mit den Wiener Philharmonikern. Es war natürlich eine große Ehre. Ich verehre dieses Orchester, aber ich wusste schon, da gibt es einen Riesenkonflikt. Ich fange an, und das Orchester versteht Achtel, wo ich Viertel meine. Ich muss also nach dem zweiten Schlag abbrechen und sagen: "Nein, meine Herren, in Vierteln." Schon Sand im Getriebe. Sowas geht einem Orchester gegen den Strich. Aber gut, sie spielen es. Dann kommen wir zum Allegro, und da machen auch alle anständigen Menschen drei Viertel daraus und spielen alles aus. Und ich dirigierte in Eins. Natürlich nicht in striktem Tempo, sondern in einem Tempo, das dem Charakter dauernd folgt. Also eine etwas freie Deklamation. Es sollte ein bisschen wie menschliche Sprache sein, ein bisschen nur, aber doch wahrnehmbar. Worauf dann natürlich gleich der Konzertmeister sagte: "Aber Herr Gielen, das geht doch im Takt", und singt mir das vor, so Viertel nach Viertel. Und ich sagte: "Aber um Gottes Willen doch bloß nicht im Takt!" Dann haben sie alle gelacht, und dann war's gut. Sie haben schließlich sehr schön gespielt.

Verfolgung und Emigration

Michael Gielen, geboren 1927 in Dresden, stammt aus einem Künstlerhaushalt. Der Vater, ein Rheinländer, war ein erfolgreicher Theater- und Opernregisseur, der unter anderem 1933 in Dresden die Uraufführung von Straussens "Arabella" und noch 1935 "Die schweigsame Frau" inszeniert hatte. Die Mutter, eine geborene Steuermann aus Galizien und Schwester des Pianisten Eduard Steuermann, war Schauspielerin. Die Geschichte der Familie Gielen verlief in einer für mitteleuropäische Verhältnisse jener Zeit nicht untypischen Weise. Michaels Mutter war Jüdin, was in Nazideutschland eine akute Gefährdung bedeutete. Doch noch in den dreißiger Jahren glaubten die Gielens, vielleicht in Deutschland bleiben zu können. Einer, der sie dabei unterstützte, war der Dirigent Clemens Krauss.

Im Jahr 1936, als mein Vater in Dresden denunziert worden war und wirklich in Gefahr war, hat ihn Krauss aus dem Staatstheater Dresden, das Goebbels unterstand, an die Preußische Staatsoper Berlin geholt, die Göring unterstand. Und da war er "sicher", in Anführungszeichen. Die Frau von Göring war Emmy Sonnemann, eine Schauspielerin, die meine Eltern von der Bühne her kannte. Und da konnte mein Vater wenigstens ein paar Jahre in Ruhe arbeiten.

Doch die Situation wurde schwieriger. 1938 übersiedelte die Familie Gielen nach Wien und kam vom Regen in die Traufe. Der zwölfjährige Michael musste erleben, dass seine Klassenkameraden in der Schule mit Steinen nach ihm warfen. Schließlich blieb als einzige Lösung nur noch das Exil. Im Januar 1940 schiffte man sich in Triest ein. Das Ziel war Argentinien.

Wir kamen ja ganz spät, wir sind erst zu Anfang des Krieges raus, meine Mutter, meine Schwester und ich. Mein Vater war ja schon während der Opernsaison 1939 dort gewesen und durch den Kriegsausbruch verhindert worden, zurück zu kommen. Und dann wurde die Emigration energisch betrieben. Meine Mutter war über drei Monate jeden Tag auf einem dieser schrecklichen Ämter, um die Papiere zu bekommen. Man weiß, dass es darauf angelegt war, den Leuten alles abzuknöpfen, bevor sie rausgelassen wurden. Schließlich durfte man mit zehn Mark in der Tasche ausreisen. Wir hatten das Glück, dass das nichts machte, weil mein Vater in Argentinien in seinem Beruf als Regisseur ja verdienen konnte. Das Teatro Colón, an dem er arbeitete, war sehr großzügig und gab ihm einen Jahresvertrag. Mit nicht sehr viel Geld, aber man konnte davon leben.

Der dirigentische Autodidakt

Die Emigration, die für viele ein hartes Schicksal bedeutete, hatte für den Heranwachsenden unerwartet positive Auswirkungen. Sie bot ihm Freiräume, in denen er sich künstlerisch viel besser entfalten konnte als in Europa, wo die aggressiv-reaktionäre Kulturpolitik der Nazis eine freie Kunstausübung unmöglich machte.

Ich wuchs ja in Emigrantenkreisen auf. Meine Musiklehrer waren alles Emigranten, die aus Berlin und Wien kamen und sehr auf die Schönberg-Schule als main trend der Musikentwicklung fixiert waren. Meine erste Klavierlehrerin dort – ich war zwölf Jahre alt, als ich 1940 hinkam – war Rita Kurzmann, die eine Freundin von Berg gewesen war und auch den Klavierauszug des Violinkonzerts gemacht hatte. Verheiratet war sie mit Dr. Leuchter, der zwar in Berlin geboren war, aber in Wien bei Guido Adler studiert hatte. Also das zeigt Ihnen schon, in welche Richtung das geht. Und Leuchter war Assistent von Webern gewesen bei den Arbeiter-Sinfoniekonzerten und war schon 1935 emigriert. Nach dem Bürgerkrieg in Österreich gab es für Leute, die mit der sozialdemokratischen Partei verbandelt waren, keine Möglichkeit mehr, im eigenen Land irgend etwas zu werden. Die waren also schon richtig arriviert in Argentinien, waren bekannte Lehrer und wohnten sehr schön. Für mich war es natürlich ein Glück. Ich war nie auf einem argentinischen Konservatorium gewesen und hätte deshalb als Dirigent im argentinischen Musikleben auch kaum eine Chance gehabt. Das war mit ein Grund, warum ich mit dreiundzwanzig dann zurück ging nach Europa.

In Buenos Aires konnte Michael Gielen viele wichtige Erfahrungen für den zukünftigen Musikerberuf sammeln. Dirigieren lernte er als Autodidakt, und schon während seines Studiums an der Universität machte er den Einstieg in die Theaterpraxis.

Ich wollte unbedingt Philosophie studieren und einen Doktortitel erwerben, um nicht als musikalischer Fachidiot zu gelten. Im dritten Semester habe ich es aber aufgegeben, weil beides zugleich zeitlich nicht ging, und auch weil mir der Unterricht der dortigen philosophischen Fakultät zu beschränkt vorkam. Bei allem Respekt für die Scholastik und den Heiligen Thomas, aber ich möchte auch etwas anderes erfahren, wenn ich auf die Universität gehe. Dann fing ich an, privat viel zu begleiten. Mein Schwager ist Geigenlehrer, und mit ihm und seinen Schülern spielte ich viel Kammermusik. Auch wurde ich schon mal ins Teatro Colón gerufen um auszuhelfen, wenn jemand krank war.

Meine allererste Probe meines Lebens ist auch nicht gerade das Übliche. Erich Kleiber traf die Kirsten Flagstad zu einer Verständigungsprobe für die Isolde. Der Korrepetitor war krank geworden, und da rief das Theater meinen Vater an und sagte: "Sagen sie mal, Ihr Sohn spielt doch alle möglichen Opern für sich zu Hause durch, hat er auch Tristan drauf?" Das hatte ich, und so ging ich hin und spielte die erste Probe meines Lebens für Erich Kleiber und Kirsten Flagstad.

Mein Berufsleben ging natürlich nicht immer auf diesem Niveau weiter. Aber ich wurde sehr bald einmal engagiert. Was das Dirigieren angeht, so blieb Erich Kleiber mit seiner Vielseitigkeit und der Natürlichkeit der Bewegungen immer mein Idol. Sein Körper und die Dirigiertechnik waren eins, er musste sich offenbar nie überlegen, wie er etwas ausdrücken soll, damit die Musiker ihn verstehen. Ob das nun Mozart oder Alban Berg oder Wagner oder Beethoven war, alles kam mit der gleichen Natürlichkeit und dem Verständnis für den Stil.

Der andere Dirigent, der jedes zweite Jahr kam, abwechselnd mit Kleiber, war Fritz Busch. Er hatte meinen Vater, der ja Schauspielregisseur war, in Dresden in den zwanziger Jahren überhaupt zur Opernbühne gebracht. Dort machte er zum Beispiel die Uraufführung des "Protagonisten" von Weill, oder einen "Don Giovanni". Busch interessierte sich dafür, wie Schauspielregisseure mit Sängern umgehen. Zum Glück war mein Vater mit der Oper genug bekannt, um im Ausland damit sein Geld zu verdienen. Als deutschsprachiger Schauspielregisseur hätte er kaum uns ernähren können.

Mit Fritz Busch hatte der gerade dreizehnjährige Michael Gielen Anfang der vierziger Jahre in Buenos Aires enge Kontakte; eine Zeitlang war er sogar sein Partner im Vierhändigspielen am Klavier.

Ich kam zu ihm ins Hotel und traf ihn, wie er die Don Juan-Fantasie von Liszt übte. Ich fragte ihn, ob er denn als Dirigent nichts besseres zu tun hätte, als Klavier zu üben, und er antwortete: "Nein, ich bin Musikant" – Musikant! – "und muss drei, vier Stunden am Tag Musik machen." Er bestellte mich wieder und gab mir alle möglichen Noten, um mit ihm vierhändig zu spielen, auch Dinge, die ich überhaupt nicht vom Blatt lesen konnte.

Die Jahre, in denen er Kontakt zu den Künstlern am Teatro Colón hatte, waren für Michael Gielen Lehrjahre von ungeheurer Intensität. Zugleich betätigte sich Gielen, der sich schon als Elfjähriger an Schönbergs Klavierstücke op. 11 herangewagt hatte, im Ensemble der Argentinischen Gesellschaft für Neue Musik als Pianist. Zu Arnold Schönbergs 75. Geburtstag 1949 spielte er in Buenos Aires in einem kommentierten Konzert Schönbergs sämtliche Klavierstücke. Die Kommentare steuerte Juan Carlos Paz bei, der 1901 geborene argentinische Zwölftonpionier.

Bereits 1946 hatte er seine erste Komposition vollendet, eine Sonate für Violine und Klavier. Nach weiteren Kammermusikstücken folgten 1949 dann die Variationen für Streichquartett. Es ist eine Musik, die ganz aus dem Geist der Streichquartette von Schönberg und Berg heraus geschrieben ist.

Begegnung in Wien mit Hanns Eisler

Ein Jahr später, als Michael Gielen wieder nach Europa zurückgekehrt war und in Wien eine Stelle als Korrepetitor an der Staatsoper antreten sollte, bildeten die Variationen den Anlass zu einer denkwürdigen Begegnung mit Hanns Eisler.

Hanns Eisler brauchte ein bisschen geistigen Urlaub von Ostberlin und saß in Wien. Er saß immer im selben Kaffeehaus um die selbe Zeit, wie das ein Wiener zu tun hat, und ich wusste das und ging hin. Eisler kannte meinen Namen und wusste, dass ich ein Neffe von Steuermann bin, den er ja kannte. Ich hatte die Variationen für Streichquartett dabei. Darin gibt es in der zweiten oder dritten Variation für jedes Instrument eine Partie, in der es allein spielt. Diese Partien sind natürlich thematisch genau so streng komponiert wie die Stellen, wo alle zusammen spielen. Aber weil immer einer allein spielt, hatte ich drüber geschrieben: Cadenza. Eisler blätterte so ganz oberflächlich in der Partitur – er schaute sich das nicht richtig an. Ich dachte damals: Mein Gott, der kann toll lesen, dass er nur so blättert und schon alles weiß! Das Einzige was er dann sagte, war: "Eine Kadenz auf der dritten Seite, das gibt es nicht!" Das fand ich ein starkes Stück. Ich hätte ihm ja beweisen können, dass nur das Wort drüber steht, dass das keine freien Kadenzen sind, sondern alles thematisch durchkomponiert ist. Ich habe das dann nicht getan. Aber es mir ein Stachel zurück geblieben. Dass ein Mensch, der es selber so schwer gehabt hat, einem jungen Komponisten – ich war ja damals höchstens vier- oder fünfundzwanzig – so einen Schlag versetzt, ohne sich wirklich für sein Stück zu interessieren. Er hätte ja erst mal bis zur Seite drei richtig lesen können, oder sagen können: Ich habe keine Zeit. Aber einen so abzukanzeln – ich fand das ungeheuer grausam.

Die Variationen für Streichquartett markieren den Abschluss von Michael Gielens Lehrjahren in Buenos Aires, in denen er sich als Korrepetitor, Konzert- und Ensemblepianist und als Komponist gleichermaßen betätigte und noch nicht genau wusste, welches in Zukunft die Hauptrichtung sein sollte. Das änderte sich 1950 mit seiner Rückkehr nach Europa. In Wien wurden die Weichen nun endgültig in Richtung Theaterarbeit gestellt. Zum Dirigieren kam er aber noch lange nicht. An der Wiener Staatsoper stand er etwa an fünfter Stelle in der Hierarchie. Vor ihm gab es Berühmtheiten wie Böhm, Krauss und andere, die Dirigierverpflichtungen hatten.

Später Beginn der Dirigentenkarriere

So kam Gielen erst mit 25 zu seinem ersten Dirigat, nachdem er vorher Jahre lang nur korrepetiert hatte. Es ging den üblichen Weg: Einspringen für einen unpässlichen Kollegen, Ballettaufführungen, gemäßigte Moderne in Gestalt von Honeggers "Jeanne d'Arc au bûcher". Die Kritik bescheinigte ihm ein "sensationelles Debut", und nun erhielt er auch im Wiener Konzerthaus Gelegenheit, einen Abend zu dirigieren, was ebenfalls ausgezeichnet gelang. Der Einstieg in die Dirigentenkarriere war damit geschafft, und es kamen die ersten Engagements. Aus jenen Wiener Jahren stammen zum Beispiel die wenig bekannten Aufnahmen mit den Werken für Klavier und Orchester von Franz Liszt, die er zusammen mit dem Pianisten Alfred Brendel machte.

1960 begann die internationale Karriere. Er wurde Chefdirigent der Königlichen Oper Stockholm und leitete dort 1963 die Uraufführung von Ligetis Requiem. 1968 wurde er Leiter des Belgischen Nationalorchesters in Brüssel, 1973 der Amsterdamer Oper. 1974 dirigierte er für den Film von Jean-Marie Straub Schönbergs Bühnenwerk "Moses und Aron".

1977 begann das legendäre Jahrzehnt von Gielens Tätigkeit als Generalmusikdirektor und Operndirektor in Frankfurt. Das musiktheatralische Konzept, das er hier mit seinem Chefdramaturgen Klaus Zehelein und Regisseuren wie Hans Neuenfels und Ruth Berghaus entwickelte, setzte Maßstäbe für die zeitgenössische Opernästhetik. Werke wie Verdis "Aida", Wagners "Ring", die Wiederentdeckung der "Gezeichneten" von Franz Schreker und die deutsche Erstaufführung von Luigi Nonos "Al gran sole carico d'amore" gingen über die Bühne – Produktionen, von denen eine große erneuernde Kraft für das Musiktheater ausging.

Nochmals Beethoven: Die Neunte

In Frankfurt machte Gielen auch den Aufsehen erregenden Versuch, Beethovens Neunte aus der Perspektive einer Dialektik der Aufklärung zu deuten, indem er Schönbergs "Überlebenden aus Warschau" in den Beginn des Chorfinales hinein montierte. Beethovens optimistische Freudenhymne, die durch Krieg und Holocaust im 20. Jahrhundert nicht mehr glaubhaft klang, wurde durch Schönbergs erschütternden musikalischen Erlebnisbericht neu beleuchtet.

Für Gielen ist das Chortutti im Sechsachteltakt dedshalb mehr ein Verzweiflungsgesang als eine Freudenhymne – "ein Geschrei", wie er es nennt. Die kritischen Fragen, die er an Beethovens Neunte stellte, mussten Musiker und Publikum erst einmal verstören. Aber das war auch seine Absicht. Er wollte provozieren, zum Nachdenken und zu einem neuen Hören anregen.

Ein Streitpunkt ist zum Beispiel das Orchesterrezitativ, gleich nach dem Einbruch der Fanfaren am Anfang des Finales. Hier sind die meisten großen Dirigenten, gegen die ich bei aller Bewunderung polemisiere, gleich dick und feierlich, während ich der Meinung bin, dass das in höchster Aufregung, fast im Presto-Tempo der Fanfare, losbricht und sich erst ganz allmählich beruhigt. Nach einer Weile kommt ja eine Fermate, ein Poco adagio, und dann folgen die Zitate. Und ich meine, das passiert auch während der Rezitativ-Teile; ausgehend von größter Aufregung stabilisiert sich nach und nach die Situation. Die Normalreaktion der meisten Musiker, auch wohlmeinender Leute, war, als sie das zum ersten Mal hörten: "Der ist ja verrückt." Doch sie haben das vorher immer so herunterbuchstabiert gehört.

Die siebte Sinfonie von Gustav Mahler

Die Musik der Vergangenheit aus dem Museum herausholen, in das sie durch die Aufführungskonventionen gestellt wurde, und ihre verdeckten Qualitäten neu hören lernen: für Michael Gielen ist das eine vordringliche Aufgabe des Interpreten, nicht nur bei einem Klassiker wie Beethoven, sondern auch bei den Sinfonien von Gustav Mahler, deren weltweiter Erfolgszug durch die Konzertsäle und Heim-Stereoanlagen ja erst in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts richtig eingesetzt hat. Gielens Mahler-Zyklus mit dem Sinfonieorchester des SWR, dessen letzte Veröffentlichungen beim Label Hänssler erschienen sind, setzt da Marksteine.

Ein Beispiel: das Finale der Siebten. Unter den Anhängern eines progressiven Mahler-Bildes, wie es wesentlich von Adorno geprägt wurde, galt es lange als hochproblematisch, weil es mit seinem triumphierend-affirmativen Gestus so überhaupt nicht in die Vorstellung einer dialektisch gebrochenen Musiksprache bei Mahler hinein passen wollte. Ein musikalischer Pickelhauben-Stil? Für Michael Gielen ist das anders. Er sieht darin ein Stück gekonnter musikalischer Ironie.

Es ist ein Rondo, und ich empfinde das, was da im Blech immer wieder kommt, als ein Auftrumpfen dieses wilhelminischen Meistersingerns und zugleich als dessen ironische Auflösung. Die Schraube wird also überdreht. Wenn Sie sich anschauen, wie die Reprisen des Hauptgedankens im Verlauf des Satzes instrumentiert sind, so wird die Mitte des Klanges immer schwächer, und am Ende gibt es nur noch ganz hohe und ganz tiefe Noten. Also er demontiert die Pickelhaube, und er demontiert das Meistersingerische. Ich finde, wenn das herauskommt, wenn man den Satz überdreht und jeden Charakter zum Extrem treibt, dann ist es nicht mehr peinlich. Die Kritik von Adorno finde ich nicht ganz zutreffend, ich glaube, er hat das Stück nicht richtig gelesen und vor allem hat er es nie vernünftig gehört, fürchte ich.

Oder die Stelle, wo die Glocken kommen. Das ist nicht das "Große Tor von Kiew", sondern das sind diese geheimnisvollen Kuhglocken, die ursprünglich das Jenseits, die Transzendenz oder die Reinheit auf der Alm oder was auch immer bedeutet haben. Die bimmeln jetzt plötzlich ganz furchtbar laut los. Es ist geradezu peinlich, wie laut diese Glocken da bimmeln. Auch der Charakter des Sakralen, der den Glocken eingeboren ist, wird also überzogen. Das führt sich selber ad absurdum. So sehe ich das.

Bernd Alois Zimmermann

Wie kann man die Musik der Vergangenheit so zum Sprechen bringen, dass sie ihre eigene Geschichte reflektiert und vor allem: dass sie ihren zeitlosen humanistischen Gehalt im Licht unserer heutigen Erfahrungen neu darzustellen vermag? Diese Fragestellung steht im Zentrum des Interpretationskonzepts von Michael Gielen, und ihr ordnet er alle technischen und aufführungspraktischen Aspekte unter. Die Musik des 20. Jahrhunderts bildet für ihn einen Ort, wo beides – historisches Bewusstsein und aktuelle Erfahrung – zusammenfällt.

Nach der Wiener Schule sind es vor allem die Werke von Bernd Alois Zimmermann, in denen er dies – historisch vielleicht zum letzten Mal, wie er sagt – verwirklicht sieht. Von Zimmermann, der sich 1970 das Leben nahm, brachte Gielen die beiden bedeutendsten Werke zur Uraufführung: 1969 in Düsseldorf das monumentale "Requiem für einen jungen Dichter" und bereits 1965 in Köln das Musiktheaterstück "Die Soldaten".

Zimmermann ist die Endfigur, der letzte bedeutende Komponist, der die westliche Musik zwischen Bach und Schönberg und darüber hinaus zusammenfasst. Er ist nicht so zukunftsweisend wie Stockhausen, sondern er verankert alles in der Vergangenheit. Mit seiner "Manie" der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – wobei die Zukunft natürlich nur als Fragezeichen dasteht, niemand kann die Zukunft komponieren – ist er für mich ein großer Schlussstein. Ein Beispiel ist für seine Zitattechnik ist diese wunderbaren Szene in den "Soldaten", wo das Liebespaar zum Zuge kommt und zugleich die alte Frau das Unheil voraussieht; dazu tritt noch die Mutter. Also es sind drei Szenen gleichzeitig. Und während die Großmutter ihre unheilvolle Voraussage tut, zieht ein Bachchoral über das Menschenopfer im Orchester vorüber, halb verborgen, halb evident.

Diese Verbindung der großen Vergangenheit, besonders mit Bach und Mozart, die er mit seiner Zitattechnik realisiert, mit der postseriellen Technik, die er für sich entwickelt hat, ist er ein Unikum. Und in diesem Sinn ist ja auch nach ihm nichts mehr Vergleichbares gekommen. Er ist wirklich ein großer Schlussstein. Als ich den ersten Akt dieses Werks in Stockholm, das war wohl 1963, zugeschickt bekam und ihn las, da schien es mir unausweichlich zu sein, dass das die Oper der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist, auf einem Niveau, das vorher nur von Wozzeck, Lulu und Moses erreicht worden ist. Also da ist ein großer Mastermind dahinter, ein ganz großes Gehirn. Und was für ein Musiker, was für eine Natur! Was sagt die Musik über die Menschen!

Gegenwartsskepsis

Richtungsweisend ist für Michael Gielen bis heute eine Musik geblieben, in der der unerschrockene Blick auf die Gegenwart sich mit einer Orientierung an den großen europäischen Traditionen verbindet. Die Werke eines Arnold Schönberg oder Bernd Alois Zimmermann setzten für ihn in dieser Hinsicht Maßstäbe. Deshalb hat er auch nie kreuz und quer alles dirigiert, was sich zeitgenössisch nennt. Mit dem amerikanischen Minimalismus zum Beispiel, jenem historisch und musiksprachlich indifferenten Trendphänomen des ausgehenden 20. Jahrhunderts, kann er nichts anfangen. Distanziert steht Gielen auch jenen Entwicklungen in der jüngsten Avantgarde gegenüber, in denen entweder rein technisch-formale Fragestellungen dominieren oder durch den Rückgriff auf musiksprachliche Gemeinplätze der bequeme Erfolg gesucht wird. Anständigerweise schreibt er seine wachsende Distanz zur Gegenwartsproduktion seinem Alter zu.

Ich entziehe mich dem, so weit ich kann. Was die Zwanzigjährigen sich so vorstellen und was sie wollen, verstehe ich nicht mehr. Da ist der Altersunterschied zu groß. Ich kann oft nicht erkennen, was daran gut sein soll. Ich sage aber nicht, dass sie alle unbegabt sind, sondern ich sage: Ich bin zu alt, ich verstehe es eben nicht mehr.

Dirigent und Komponist

Als Chefdirigent des Sinfonieorchesters des SWR hat sich Michael Gielen der Verpflichtung, regelmäßig neue Musik zu dirigieren, mit großem Elan und beispielloser Kompetenz gestellt. Im Jahrzehnt von 1986 bis 96, als er diesen Posten besetzte, dirigierte er unzählige Aufführungen auf allerhöchstem Niveau, viele davon bei den Donaueschinger Musiktagen, wo das SWR-Orchester das Hausorchester ist. Daneben produzierte er seine Mahler- und Bruckner-Zyklen weiter, nahm Werke auf von Bach, Beethoven und Schubert bis zur klassischen Moderne eines Skrjabin und Busoni, zu den Orchestervariationen seines Onkels Eduard Steuermann und natürlich den Werken der Wiener Schule. Ein imposantes Panorama der Orchestermusik, teilweise dokumentiert in der beim CD-Label Hänssler erscheinenden Gielen-Edition. Nicht zu vergessen die Einspielung seiner eigenen Komposition "Pflicht und Neigung" für Bläser, Schlagzeug und Tasteninstrumente von 1988. Sie beruht auf Material aus dem Streichquartett, das er fünf Jahre zuvor für das LaSalle Quartett geschrieben hatte; der im Titel angedeuteten Zwiespalt wird in eine von innerer Spannung erfüllte, farbige und prägnant strukturierte Musik umgesetzt.

Er schreibe, um einen Ausgleich zum Dirigieren zu finden, begründet Michael Gielen seine Komponiertätigkeit. Für großes Orchester hat er bisher absichtlich nichts geschrieben, denn in früheren Jahren erfuhr er oft auf schmerzhafte Weise, wie eng die Grenzen für die neue Musik bei diesem Apparat gesteckt sind. An ihn wollte er seine Kreativität nicht ausliefern. Auch wenn sich die Verhältnisse bei den Orchestern inzwischen spürbar verbessert haben – eine gesunde Portion Skepsis ist auch dem Dirigenten Gielen geblieben, was mit ein Grund für seine zunehmende Abstinenz gegenüber der Gegenwartsproduktion sein dürfte.

Doch ganz auf die Tradition und die historische Moderne will er sich nicht zurückziehen. Der einzige Komponist, zu dem er sich nach eigenen Worten nach wie vor ganz bekennt, ist der inzwischen auch schon über siebzigjährige Helmut Lachenmann. Er liebe ihn, weil er seinen Prinzipien ganz treu geblieben sei, sagt Gielen:

Da gibt es überhaupt nichts rückwärts Gewandtes, und er hat sich von niemandem beeinflussen lassen.

Wie Lachenmann ohne Rücksicht auf eingeschliffene Hörgewohnheiten neue Möglichkeiten der Klangproduktion erforscht hat, so kompromisslos hat Michael Gielen die Musik aus Vergangenheit und Gegenwart immer wieder auf ihre Inhalte befragt. Und wie Lachenmann ist er der breiten Straße des Massengeschmacks bewusst fern geblieben:

Das wäre ja schändlich, mitzulaufen in einer von der Industrie quasi diktierten ästhetischen Haltung. Das wäre wirklich der Verrat an allem. Dann brauche ich ja gar nicht Partitur lesen zu können. Dann brauche ich ja nur nach dem Gehör zu dirigieren.

* * *

© 2002 Max Nyffeler, Nov. 2002

Bei dem Text handelt es sich um das überarbeitete Manuskript einer Sendung, die am 16.11.2002 im Bayerischen Rundfunk, 2. Programm, ausgestrahlt wurde.

Anmerkungen

1. Das Interview, von dem hier Bestandteile verwendet wurden, entstand am 4.8.2002 in Italien. Der mündliche Charakter der Äußerungen sollte erhalten bleiben, weshalb nur die gröbsten Versprecher und Unebenheiten korrigiert wurden. (zurück)

2. Rudolf Kolisch: Tempo und Charakter in Beethovens Musik. Musik-Konzepte Bd. 76/77, München 1992 (zurück)

3. Folgende Aufnahmen von Beethovens 5. Sinfonie wurden verglichen:
- Sinfonie-Orchester des SWR, Ltg. Michael Gielen (Intercord 860 920)
- Staatsopernorchester Berlin, Ltg. Richard Strauss (Naxos 8.110926)
- Chamber Orchestra of Europe, Ltg. Nikolaus Harnoncourt (Teldec 2292-46452)
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