Zur Musik von Chaya CzernowinÜber die Notwendigkeit des Erinnerns / Von Max NyffelerEs gibt immer wieder Werke, die durch den zeitgeschichtlichen Kontext, in dem sie stehen, über alle musikalischen Belange hinaus eine zeichenhafte Bedeutung erlangen. Sie kommen, wie es heißt, im richtigen Moment. Dazu gehört etwa Berios Sinfonia, die im Umbruchsjahr 1968 die hochkulturelle Enge aufbrach und mit ihrer Relativierung der Perspektiven zugleich die Ära der Postmoderne einläutete. Oder Nonos Streichquartett, das sich 1980 vom obsolet gewordenen Objektdenken der alten Avantgarde verabschiedete, um sich ganz auf innere Geschehnisse zu konzentrieren. Ein solches Werk, das genau im richtigen Moment auftauchte, war bei der Münchener Musiktheater-Biennale 2000 auch die Kammeroper Pnima ... Ins Innere der damals 43-jährigen Israelin Chaya Czernowin. Signifikant war es im Hinblick auf eine besonders schmerzhafte zeitgeschichtliche Problematik: das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden. Das Musiktheaterstück führte eine neue, durch ästhetische Erfahrung vermittelte Perspektive in diesen schwierigen Dialog ein und fand dafür einen künstlerisch unverwechselbaren Tonfall, der tiefe Spuren im hörenden Bewusstsein hinterließ. Die Katastrophe des Holocaust reflektierte es aus der Sicht der zweiten Generation der Überlebenden, und dies am ehemaligen Schauplatz der Verbrechen in einem sich langsam wandelnden Land, wo mit dem Bau eines Jüdischen Museums ein Ort der Erinnerung entstand und wo die jüngere Generation lernte, einen distanzierteren, aber umso genaueren Blick auf die Taten der Eltern und Großeltern zu werfen. Im Zentrum von Chaya Czernowins Musiktheaterstück stehen die Fähigkeit des Menschen, sich zu erinnern, und die Frage, wie die Generation der Opfer ihr Wissen an die Nachgeborenen weitergibt. Wie können die Alten ihre traumatischen Erfahrungen, die sie in ihrem Inneren eingekapselt haben, um daran nicht psychisch zu zerbrechen, überhaupt kommunizieren? Wie gehen die Jungen, die den Völkermord nicht mehr direkt erfahren haben, mit diesem Erbe um? Bei der künstlerischen Umsetzung dieser sensiblen Thematik verzichtete die Komponistin auf alle Betroffenheitsappelle und den politisch-pädagogischen Zeigefinger; ihre Haltung war vielmehr die einer konsequenten Selbstbefragung. Die schwierige Thematik stellte sie mit ihren ganz persönlichen künstlerischen Mitteln dar und ließ sich leiten von einem subtilen Hinabhören ins eigene Innere und in die kollektive Psyche der Opfer. Vergangenheit als Nicht-OrtIn Pnima ist der Weg ins Innere des Ichs zugleich der Weg an einen Ort der größten Entfernung von Humanität. Als Vorspann zum karg-abstrakten Geschehen wurde in der Münchner Inszenierung von Claus Guth und Christian Schmidt ein Film auf das leere Bühnenbild projiziert: Eine Fahrt durch die Straßen von München, normaler Alltag, Einkaufsstraßen, Autos, Verkehrsampeln; dann hinaus aus der Stadt, ländliche Umgebung, zunehmend menschenleeres Niemandsland, und plötzlich die Silhouette von Lagergebäuden und Wachttürmen: Das Konzentrationslager Dachau. Unter der Projektion der leere, verlassene Bühnenraum mit den Spuren einstigen Lebens: Lagerraum, Verwaltungsraum, Folterraum, seelischer Raum? In jedem Fall ein Nicht-Ort. Klang erschien hier wie ein Widerhall von Ereignissen, die längst vergangen und doch auf irritierende Weise präsent geblieben sind. Auch in ihren konzertanten Werken sucht Chaya Czernowin permanent solche Nicht-Orte auf. Schritt um Schritt erschließt der Klang die leeren, imaginären Räume. Er öffnet unerwartete Ausblicke, stößt in Verließe vor, verliert sich taumelnd in der Weite „drunken rhythm“ schreibt sie im Streichquartett einmal über eine Stelle in hoher Lage. Er sucht nach Halt und Selbstvergewisserung, letztlich nach seiner Identität in fremder Umgebung. Der Bezug zur Realität reißt dabei nie ab, doch manifestiert er sich nur auf unterschwellige Weise. So auch im Orchesterstück Maim zarim, maim gnuvim, dem ersten Teil eines als Triptychon geplanten Orchesterzyklus, wo die Musik ihre Orientierung stellenweise völlig zu verlieren scheint. Die strukturelle Dissoziation geht letztlich zwar auf einen äußeren Anlass zurück, der in diesem Fall sogar lokalisierbar ist: Der Schock des 11. September 2001 und die damit verbundenen kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten und in Afghanistan. Doch als „politische Musik“ will die Komponistin das Werk nicht verstanden wissen. Der Titel „Fremdes Wasser, gestohlenes Wasser“ steht vielmehr als Metapher für eine Art emotionaler Enteignung die durch einen gewaltsamen Eingriff in den Schaffensprozess erzwungene Entfremdung des Künstlers von seiner Arbeit. Hier wie in andern Werken reflektiert die Musik nicht in realistischer Manier äußere Ereignisse, welcher Art sie auch seien, sondern sie ist Seismograph der Erschütterungen im Inneren des Subjekts. Psychologie des MaterialsIn Pnima und den benachbarten Werken geschieht das mit einer stark in der expressionistischen Tradition verwurzelten Musiksprache. Das Verschüttete, das traumatisch Verdrängte meldet sich eindringlich sprechend, klagend, wimmernd und schreiend zu Wort, gerade auch im reinen Instrumentalklang. Die gepressten und deformierten Laute haben etwas von der Radikalität der Werke, die Dieter Schnebel, einer von Chaya Czernowins Lehrern, unter dem Einfluss der Psychoanalyse Anfang der siebziger Jahre komponierte. Die Befreiung aus den Fesseln des „schönen Klangs“ setzt Energien von anarchischer Kraft frei. In den jüngeren Werken ist diese expressive Geste einem mehr sachlich-distanzierten Umgang mit dem Klangmaterial gewichen. Die Komponistin feilt am präzisen Umriss des kleinen Details, das in seiner konkreten klanglichen Erscheinung zur Keimzelle größerer formaler Zusammenhänge werden kann. Dem derart objektivierten Klang sind die Spuren der Verletzung indes nicht weniger deutlich eingeschrieben als der psychologisierenden Sprachgestik der früheren Werke. Er ist härter, aber auch zerbrechlicher geworden und kann mit rücksichtsloser Schärfe ins Gehör schneiden. Das klangliche Detail wird durch die Notation sorgfältig definiert. Der Katalog der Spielanweisungen, der schon im 1994/95 entstandenen Streichquartett sehr ausführlich geraten ist, dient vor allem der Klassifizierung des weiten Spektrums von Geräuschklängen. Verstärkt wird der Geräuschanteil gelegentlich durch Sampler-Zuspielungen mit kaum erkennbaren Fetzen von konkreten Materialien. Auffallend an manchen Partituren, besonders deutlich in den Winter Songs, ist außerdem eine gewisse Vorliebe für tiefe, düstere Register, aus denen helle Klänge oft nur blitzartig hervorstechen oder als Obertonkonstellation kurz aufleuchten. Zerrissene FormAls „torn forms“ zerrissene, abgerissene Formen bezeichnet Chaya Czernowin die vier Sätze des Ensemblestücks Excavated Dialogues; das Streichquartett reißt am Schluss abrupt ab; die langgezogenen Texturen der Winter Songs scheinen immer wieder in der Stille zu versanden. Fragmentierung, Schnitt und assoziatives Weitertasten prägen das Erscheinungsbild der Werke. Als diskontinuerliche, durch Interpunktionen vielfach gegliederte Prosaerzählungen stecken sie voller Überraschungen und Brüche. Der Zerklüftung des Zeitverlaufs entspricht in der Senkrechten der konsequente Spaltklang. Auch auf der Ebene der Tektonik ist das Prinzip der Dissoziation zu beobachten. Das Werk wird tendenziell in seine verschiedenen Komponenten zerlegt. Modellhaft zeigt sich dies im Musiktheaterstück Pnima. Die Bühnenfiguren handeln pantomimisch, ihre Stimmen kommen von den links und rechts vor der Bühne platzierten Vokalisten; die visuelle Ebene ist in Bühnenbild und Filmprojektion aufgespalten. Ähnliche strukturelle Verfahren zeigen sich auch in den konzertanten Werken, so etwa in den Six Miniatures, wo zwei unabhängige, nur an einzelnen Koordinationspunkten gegeneinander fixierte Schichten übereinander gelegt sind. Solche Verfahren haben ihre semantischen Implikationen. Die Überlagerung ist eine Technik des Verdeckens, doch sie kann andererseits das Darunterliegende auch durchscheinen lassen. In dieser Dialektik offenbart sich zugleich ein Aspekt von Zeitlichkeit und damit von Erinnerung: Das Verdeckte erscheint als das Frühere, Verschüttete, durch Zeit Korrumpierte, das kompositorisch freigeschaufelt und hörend ans Tageslicht gehoben werden kann. In Excavated dialogues klingt dieser Gedanke schon im Titel an. Komponieren als schöpferische Archäologie und Spurendeutung. Eine komplexe Variante dieses Verfahrens ist in Chaya Czernowins Beitrag zu Mozarts Singspiel Zaide zu besichtigen. Die historische Vorlage wird durch zahlreiche Einschübe und Kommentare ergänzt und zugleich fragmentiert ein Patchwork aus Alt und Neu, das dem kindlichen Aufklärungsoptimismus des Originals eine durch historisches Wissen angereicherte Erfahrungsschicht hinzufügt. Suche nach SchönheitIn der dissonanten, formal zerrissenen und geräuschhaft geschärften Musik Chaya Czernowins verbinden sich Sensibilität und emotionale Schutzlosigkeit mit der Suche nach einer mitleidlosen Präzision des Ausdrucks. Das berührt die alte Frage der Schönheit, und obwohl die Komponistin offensichtlich der Wahrheit im Schönbergschen Sinn den Vorrang gibt, will sie vom Begriff der Schönheit nicht lassen. Sie reklamiert ihn auf dialektische Weise für ihr Werk. „Ich glaube, das Schönste, was es gibt, ist: in die innere Dunkelheit sehen“, notierte sie im Zusammenhang mit Pnima, und Schönheit finde sich in allem Lebendigen: „Das Lebendigste ist eben nicht das Glatte, nicht der Platz, an dem man sich sicher und geborgen fühlt, nicht der Ort, wo man locker träumen kann. Lebendigkeit finde ich in der Lebensintensität, und diesen Platz will ich, oder besser: muss ich immer besuchen.“ Und das, so sagt sie, ermöglicht „die Erfahrung einer sehr harten Schönheit, die ich als Lebensbedürfnis empfinde.“ © 2005, Max Nyffeler Beim vorliegenden Text handelt es sich um Auszüge aus: Der starke Widerhall im Inneren. Zur Musik von Chaya Czernowin, in: Programmbuch Salzburg Passagen, Salzburger Festspiele 2005, S. 42ff. Komponisten: Portraits, Dossiers
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