Fragen wird es immer genug gebenMauricio Kagel im Gespräch mit Max NyffelerEnglish version Herr Kagel, zur Zeit werden Sie wahrscheinlich belagert mit Interviews*). In ihrem Komponieren haben Sie immer wieder menschliche Verhaltensweisen und Kommunikationssituationen zum Gegenstand von Werken gemacht. Werden wir von Ihnen bald ein Stück mit dem Titel "Interview" zu hören bekommen? Das Stück habe ich bereits 1994 geschrieben, es heißt "Interview avec D. pour Monsieur Croche et Orchestre". Ich habe darin verschiedene Gespräche von Debussy aus seinen Schriften "Monsieur Croche antidilettante" ausgewählt und ineinander montiert. Das hat mich sehr interessiert, weil Debussy auch sehr skeptisch war, was Interviews betrifft. Die Kommunikation eines Komponisten mit der Außenwelt geschieht ohnehin weniger oral als auditiv. In "Interview avec D." ist das Orchester der Interviewer und vieles klingt so, als ob das Orchester fragen und Debussy die Antworten geben würde. Und welche herrliche, aufschlussreiche Antworten! "Meine Interviewpartner haben mir oft erstaunliche Sachen in den Mund gelegt, die ich mit großer Überraschung lese. Diese Interviews fordern mir zu große Anstrengung ab und sind - leider! - weder für meinen Besucher noch für mich ein Gewinn. Ich will meine innere Landschaft so unverfälscht wie möglich besingen. Sicherlich kann ein solches künstlerisches Prinzip nicht funktionieren, ohne dass man aneckt. Ich bin darauf gefasst und freue mich darüber. Ich werde nichts tun, um mir Gegner zu schaffen. Aber ich werde auch nichts unternehmen, um aus meinen Feindschaften Freundschaften zu machen. Man muss sich bemühen, Künstler für sich selbst und nicht für die anderen zu sein. Gewiss werde ich mir eines Tages, wenn ich keine Streitigkeiten mehr auslöse - was hoffentlich möglichst spät sein wird -, übelste Vorwürfe machen. In meinen letzten Werken wird notwendigerweise die abscheuliche Scheinheiligkeit dominieren, die es mir dann nämlich ermöglicht haben wird, alle zufriedenzustellen."Warum sind Sie grundsätzlich skeptisch gegenüber Interviews? Es bedarf großen Vertrauens, in einer ernsthaften Form über sich zu reden, und dieses Vertrauen kann man nicht auf Anhieb herstellen. Wenn man auf den Grund der Dinge gehen will, dann braucht man Zeit und mehr als das: Man muss sogar vergessen können, dass die Uhr beharrlich weiterläuft. Es gibt in fast jedem Gespräch ganz natürliche Barrieren zu überwinden. Die Interviews von Strawinsky mit Robert Craft zum Beispiel sind interessant, weil Craft erreichte, dass Strawinsky seinen wunderbaren Humor durch ernsthafte Aperçus noch steigerte. Und es tut nichts zur Sache, dass die Gespräche nachredigiert wurden. Originaltöne unredigiert zu veröffentlichen ist sündhaft, weil gelesene Worte eine Konzentration des diskursiven Gedankens erfordern, die beim Sprechen gar nicht nötig ist. Vertrauen kann wahrscheinlich nur entstehen, wenn man sich häufig trifft und für beide Partner das Gespräch intellektuell anregend ist. Fairness gehört selbstverständlich dazu. Da sind natürlich die Voraussetzungen für unser Gespräch etwas bescheidener. Die letzten beiden können wir vermutlich erfüllen; aber gerade häufig haben wir uns in der Vergangenheit nicht getroffen. - Herr Kagel, ich möchte Sie gerne ein wenig über ihre Vergangenheit befragen. Mich interessiert, wie Sie nach Deutschland kamen. Das ist jetzt bald ein halbes Jahrhundert her - seit September 1957 leben Sie in Köln. Wie war das damals für Sie: War das ein kultureller Bruch oder eher eine Neubegegnung mit Dingen, die Sie eigentlich schon aus Argentinien kannten? In Buenos Aires habe ich 1954 Pierre Boulez kennengelernt, der dort
zweimal mit der Theater-Compagnie von Jean-Louis Barrault auf Tournee war.
Er insistierte: "Sie müssen weg: nach Europa." Ich bewarb mich um
ein Stipendium nach Frankreich, das ich aber nicht erhielt. Dafür
bekam ich eines vom Deutschen Akademischen Austauschdienst. Boulez erzählte
mir vom Studio für elektronische Musik des WDR. So kam ich nach Köln.
Natürlich war mir vieles bekannt, anderes nicht. In Argentinien blieb
meine Neugierde selten unbefriedigt. Kurios: dort wurde ich als Europäer
und hier als Südamerikaner betrachtet. Das ist ein Widersinn, den
ich heute wegen seiner Eigenart sehr schätze. Eigentlich fühle
ich mich überall etwas fremd - nicht grundsätzlich, aber genug,
um von "latenter Befremdung" zu sprechen. Und das schafft eine wohltuende
Distanz zu vielem. Ich bin in Buenos Aires geboren, aber es hätte
ebenso Chicago, Schanghai oder Milano sein können. Emigranten reisen
oft nicht dorthin, wo sie wollen, sondern wo sie ein Visum bekommen. Die
Geographie des Zufalls ist leidlich und unergründlich.
Sie greifen damit einer Frage vor, die ich Ihnen gerade stellen wollte: die nach der sogenannten kulturellen Identität. Das ist ja ein problematischer Begriff, denn eine nach außen abgeschlossene, in ihren Inhalten und Traditionslinien klar definierte Kultur gibt es heute immer weniger. Ich bin glücklich, in Argentinien geboren zu sein, denn so wurde ich nicht mit dem Begriff der kulturellen Hegemonie konfrontiert, der in Europa fatale Hemmungen und Aggressionen rechtfertigte. Das war eine der Erkenntnisse, die mich hier zuerst erschreckt haben. Als jemand, der aus Übersee kam, dachte ich: Was wissen wohl meine Kollegen, und was kennen sie dank eines aufgeklärten Musiklebens schon alles, was ich nicht kenne? Und dann stellte ich fest: Ravel zum Beispiel war fast unbekannt, von Reger hatten sie nur wenig Ahnung und von Skrjabin vielleicht ein Klavierprélude gehört. Ich begegnete einer einseitigen, verarmten Musikrezeption, und dieser anämische Zustand hielt sich lange, weil die musikalische Avantgarde die Ahnengalerie auch aus Unkenntnis schmal hielt und unter starken Berührungsängsten litt. Das ist ein kompliziertes Thema. Aber zu glauben, dass man etwas Neues schreiben kann, indem man das bereits Geschaffene leugnet, ist nicht nur falsch, es führt auch zu überflüssigen Stücken ohne Eigenständigkeit und musikhistorische Relevanz. Was den Begriff der "kulturellen Identität" angeht: Sicher habe ich eine, meine Identität, aber ich würde lieber von "fragmentarischen Identitäten" sprechen. Die aggressive Identifikation mit einer einzigen Kultur hat oft zu Katastrophen geführt. Was Chauvinismus und Nationalismus angeht, da bin ich sehr empfindlich. Nur unglückliche Personen haben wahrscheinlich Identitätsprobleme; und das gilt besonders auch für ganze Völker und Länder. Was wir weltweit an Katastrophen erleben, hat häufig mit der systematischen Destruktion von Identität zu tun. Mord und Totschlag verselbständigen sich und bringen dem Sieger sogar keinerlei sichtbaren Gewinn. Sie haben vorhin die Situation angesprochen, als Sie hierher kamen. Damals waren Sie offenbar fast ein wenig enttäuscht, dass die Leute hier einen etwas engen Horizont hatten. Hing das zusammen mit der spezifisch deutschen Situation nach dem Krieg und mit der damaligen Situation der Avantgarde, die eine schmale Traditionslinie verfolgte und alles andere wegblendete? Oder ist Ihnen das gesamteuropäisch aufgefallen? Beides. Einerseits war Darmstadt der Versuch, nachzuholen, was einem im "Tausendjährigen Reich" vorenthalten worden war. Aber die wirklich jungen Komponisten damals hatten nur einen Zipfel des Nazismus erlebt. Einerseits war ein notwendiges, schnelles Sammeln von Informationen. Andererseits gibt es die sogenannte Pflege (!) des spezifisch Deutschen, spezifisch Englischen, spezifisch Italienischen. Das ist dann meistens erschreckend provinziell und häufig eng regional gefärbt. Vor Jahren war ich beim Festival von Aix-en-Provence. Der Direktor des dortigen Conservatoire hatte alle nichtfranzösische zeitgenössische Musik aus dem Haus praktisch verbannt. Ist dies heute noch vorstellbar? So versuchte er, beim Kultusministerium gute Figur zu machen. Es gibt in der nationalistischen Kulturauffassung viele solcher Beispiele freiwilliger Selbstkasteiung. Ist es aus Ihrer Sicht in Deutschland auch so gelaufen? Nein, da gibt es schon einen gewaltigen Unterschied. Im Gegensatz zu vielen Ländern Europas herrscht in der Kultur hier eine traditionelle Toleranz und Aufnahmefreude dem Fremden gegenüber. Das war schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts so, man denke nur an die vielen Russen, die in Deutschland waren - überhaupt die Osteuropäer, die hier lebten, aufgeführt wurden und künstlerisch gearbeitet haben. Der Osten spielte für Deutschland immer eine wesentliche Rolle. Die westdeutsche Bundesrepublik war in dieser Hinsicht richtig amputiert. Wir erleben jetzt einen diffizilen Übergang; das Endstadium der Normalität werden wir - werde ich - nicht mehr erleben. Aber dann wird der Gewinn für beide Seiten, für beide zusammengefügten Deutschlands und für die östlichen Staaten, außerordentlich sein. Stichwort Osten: Ihre Vorfahren kommen aus Osteuropa. Es sind osteuropäische jüdische Emigranten gewesen? Sie waren eine Mischung von Deutschen und Ostjuden. Ein Teil meiner Familie kam aus Preußen, der andere aus St. Petersburg und Odessa. Doch es gab in der Familie auch einen sephardischen Zweig. Sephardische und aschkenazische Juden haben sich selten vermischt, aber bei mir ist es tatsächlich der Fall. Auf Hebräisch bedeutet Aschkenas ursprünglich die im Gebiet des heutigen Deutschland und Nordostfrankreich lebenden Juden. Sefarad dagegen die iberische Halbinsel und Südfrankreich. Meine Vorfahren kamen also auch aus Spanien, und deshalb fühle ich mich glücklich, in Südamerika geboren zu sein. Denn ich konnte nicht nur die klassische spanische Literatur auf Spanisch lesen, sondern ich kann auch Ladino, das Jiddisch der sephardischen Juden, verstehen - eine archaische spanische Sprache aus dem 16. Jahrhundert, die man noch heute im Mittelmeerraum spricht. Wann sind ihre Vorfahren nach Argentinien gekommen? Waren es ihre Eltern? Ja, meine Eltern. Das war in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre. Spielte die osteuropäische Kultur für Sie noch eine Rolle, als Sie in Argentinien aufwuchsen? Eine Riesenrolle. Als die Klezmermusik vor einigen Jahren populär wurde, konnte ich das gar nicht glauben. Das war für mich eine sehr ferne, aber nicht vergessene Welt, die ich gut kannte und die aus der akustischen Versenkung wieder auferstand. Sie haben sie in Argentinien kennengelernt? Natürlich. Diese jüdischen Spieler und ihre Musik waren für
mich mit dem Holocaust für immer verschwunden. Aber dann erschien
plötzlich in Europa die Klezmermusik aus New York, und zwar von jungen
Musikern gespielt, die sie als Kinder sicher auch zunächst nur auf
Hochzeiten gehört hatten. Lebten in Buenos Aires viele Juden? Es war damals die größte jüdische Gemeinde neben New York. Die geistige Atmosphäre dort in den vierziger, fünfziger Jahren war unbeschreiblich dicht, genau so komplex wie widersprüchlich - eine wirklich großartige, kulturell überschäumende Stadt. Ich kann Ihnen etwas Interessantes erzählen: Vor einigen Monaten stieß ich auf dem Marché aux puces in Paris auf ein kleines Geschäft, das überquoll von Davidsternen, jüdischen Amuletten, billigen Reliquien und Ramsch. Plötzlich sah ich ein Theaterplakat von 1942, das eine Aufführung mit Maurice Schwarz in Buenos Aires ankündigte. Schwarz war der wahrscheinlich berühmteste jiddische Schauspieler aus New York und machte mit seiner Truppe jedes Jahr eine Wintertour durch Südamerika, wenn es im Norden Sommer war. Die Compagnie trat im Teatro Excelsior in der Calle Corrientes auf, wo meine Eltern mich auch manchmal mitnahmen. Dort hörte ich zum Beispiel Shakespeare auf Jiddisch, bevor ich ihn auf Spanisch oder Englisch las. Diese Wiederbegegnung mit dem Plakat von Maurice Schwarz war für mich ein Wachrufen von fast vergessenen Erlebnissen. Zwar pflege ich nicht die jiddische oder die jüdische Kultur - ein strenger Unterschied ist vonnöten -, aber ein wichtiger Teil meiner Wurzeln ist dort. Ganz zu schweigen von den vielen polnischen und russischen Theaterregisseuren aus Warschau und Moskau, die gerade aus dem Milieu der jiddischen Kultur hervorgingen und zur nicht-jüdischen Kultur ihrer Länder Wesentliches beitrugen. War das für Sie nicht ein etwas eigentümliches Gefühl, als Sie 1957, zwölf Jahre nach Kriegsende, nach Deutschland kamen im Bewusstsein Ihrer jüdischen Herkunft? Sicherlich, ja. Darüber habe ich schon einmal länger Auskunft gegeben und möchte mich hier nicht wiederholen. Nur soviel: Ich kam mit dem klaren Vorsatz, dass man nicht in Hass leben kann. Was in Deutschland geschehen war, ist so unvorstellbar, dass ich mir vornahm, Menschen zu finden, die eine entgegengesetzte Werteskala vertreten konnten: Die Zeugnisse der Kultur sind wahrscheinlich die einzigen, die das historische Verhängnis des Nationalsozialismus überdauert haben und diesen dadurch in ein noch schlimmeres Licht rückten. Man darf nicht vergessen. Was geschehen ist, darf nicht - auch nicht in milderen Varianten - wieder vorkommen. Die Ursachen des Hasses sind dennoch immer vorhanden. In vielen Ihrer Werke vor allem der ersten zwei Jahrzehnte spüre ich eine bestimmte Außenseiterperspektive von Ihnen auf die hiesige Kultur, in die Sie damals hineinwuchsen. Fühlten sie sich damals als randständig? Und ist das heute auch noch so oder fühlen Sie sich jetzt vollständig integriert? Ich bin sicher eine Randfigur geblieben, obwohl ich schon ziemlich früh
Mitglied des "Aufsichtsrats" wurde. Damit kann ich sogar sehr gut leben,
weil man mich in Ruhe arbeiten lässt - außer wenn ich häufig
Interviews geben muss... Auch habe ich keine Machtposition im Musikbetrieb
angestrebt. Ich wurde Dozent, nicht um eine Kagel-Schule zu gründen,
sondern um Wissen weiterzugeben. Nur meine kompositorische Arbeit sollte
der Maßstab sein, an dem mein Beitrag gemessen werden kann.
Das setzt auch so eine Eindeutigkeit voraus: einer der weiß, wo es entlanggeht. Das widerspricht Ihrer Ästhetik; Sie sind eher jemand, der die Ambiguität sucht, und vielleicht ist das mit ein Grund, weshalb viele Ihrer Stücke immer wieder Widerspruch hervorgerufen haben. Würden Sie dem zustimmen? Zu meinem Erstaunen musste ich feststellen, wie undialektisch viele Intellektuelle seit den sechziger Jahren die Vorzüge der Dialektik verteidigten: Sie lasen Adorno, bewunderten seine sprachliche Virtuosität und die Schärfe seines Geistes. Aber Komponisten, die tatsächlich mit Hilfe dieser Dialektik ästhetischen Widerstand leisteten, akzeptierten sie weniger. Aber dies hatte kaum mit der eigentlichen Musik zu tun. Es gibt in der Musikwelt auch sprachliche Ikonen, die lediglich der Selbsttäuschung dienen. Manche politischen Begriffe wurden ganz ungeprüft verschlungen. Einige Sujets meiner Stücke sind sicher doppeldeutig oder dreifach-deutig. Mich interessiert die Ambiguität. Aber nicht, weil ich ein Freund der Ambiguität bin, sondern weil sie ein wesentliches Merkmal der Außenwelt ist. Viele Ihrer Kompositionen vor allem aus den frühen Jahre zeichnen sich aus durch das Zusammenwirken von Musik, Sprache, Gestik und Bild, woraus dann diese schillernde Semantik entsteht. Mir scheint, dass das, was damals unter dem Titel "Instrumentales Theater" eine untrennbare Einheit bildete, sich ungefähr in den letzten zehn Jahren mehr und mehr ausdifferenziert. Das heißt, dass Sie nun gezielt einerseits Filme machen oder szenische Werke schreiben und andererseits sogenannt absolute Musik. Ist die Beobachtung richtig? In gewissem Sinne ja. Aber ich habe auch in der Zeit des Instrumentalen Theaters nie aufgehört, absolute Musik zu schreiben. Über den Begriff der "absoluten Musik" kann man sich übrigens lange unterhalten. Was ist absolute Musik und was nicht? Ich empfinde absolute Musik manchmal ausgesprochen mitteilsam und glaube wahrzunehmen, welche intimen Anekdoten, auch unaussprechliche, die Komponisten erzählen. Man spricht zum Beispiel bei der Melodienbildung häufig von männlichen und weiblichen Elementen. Wer damit umgehen kann, vermag Konflikte auf sehr differenzierte, intime Art zu formulieren. Zum Beispiel Mozart, bei dem Männliches und Weibliches in der gleichen Melodie als Konfliktmoment angelegt sind. Also, auch das gehört zum weiten Begriff der absoluten Musik... Was mich angeht, so habe ich seit über zwanzig Jahren Stücke über die Syntax von Musik geschrieben. Diese Elemente der musikalischen Syntax haben mit absoluter Musik zu tun wie auch mit etwas, das ich das "absolute Theater" nennen würde. Dramaturgie ist ebenso quantifizierbar. Zu den in den neunziger Jahren entstandenen "Etudes" für großes Orchester haben Sie geschrieben: "Es entsteht ein Werk der absoluten Musik im reinsten Sinn des Begriffs". Im Zentrum Ihres Interesses stehen hier rein musikalische Kategorien wie Syntax, Klangfarbe oder Harmonik, worauf der Titel "Etüden" ja eigentlich hinweist. ". Oder im Orchesterstück "Opus 1991", zu dem Sie ganz hegelianisch anmerken, es sei ein Werk der abstrakten Subjektivität, ist es die Frage der Obertöne, der Formanten, die Sie beschäftigt . Das sind wirklich genuin musikalische Fragestellungen. Aber nach dem, was Sie eben sagten, ist anzunehmen, dass Sie da nicht nur in "absoluten" Dimensionen denken. Unter der Oberfläche der sogenannt absoluten Musik erzählen Sie vermutlich Ihre ganz persönlichen, "heimlichen" Geschichten. Diese Art des Komponierens beruht selbstverständlich auf der Bildung einer musikalischen Sprache. Jeder Komponist will durch Musik kommunizieren. Ich glaube keinem, der behauptet, er schreibe ausschließlich absolute Musik und es interessiere ihn gar nicht, ob die Leute zuhören oder nicht. Man komponiert zwar nicht für ein bestimmtes, ideales Publikum, aber doch für einen Zuhörer, der der gleiche ist, wie der, der die Musik erfindet. Es ist ein Dialog mit sich selbst. Und dieser Dialog braucht syntaktische Elemente, damit er verständlich bleibt. Das gehört zu meiner Auseinandersetzung mit dem Begriff der Deutlichkeit. Es ist ein Missverständnis, wenn man glaubt, ich suche nur das Undeutliche, die Andeutung. Zugegeben, ich habe eine gewisse Schwäche für anarchistische Zustände, die sich künstlerisch-musikalisch vermitteln lassen. Auch Chaos interessierte mich, lange bevor die Chaos-Theorie in Mode kam. Aber ich bin weder Anarchist noch ein Chaotiker, sondern sehr diszipliniert und streng in meinem Denken. Die genannten Elemente zielen auf Aspekte der musikalischen Sprache, die für mich ganz wesentlich sind. Das legitimiert letztlich mein Dasein als Komponist. Ich schreibe nicht nur für mich, sondern wende mich auch an andere, indem ich versuche, mich musikalisch mit meinen Mitteln verständlich zu machen. Das nennt man kommunikatives Handeln. Mit wem und wie kann ein Komponist heute kommunizieren? Ich habe den Sachverhalt einmal so definiert: Es gibt heute drei Kategorien der musikalischen Komposition. Erstens Musik, die für eine unmittelbare Publikumsresonanz geschrieben wird. Zweitens Musik, die auf bestimmte Interpreten und Instrumente zugeschnitten ist. Und drittens eine zeitgenössische Abnormität, die es früher nicht gab: Musik von Komponisten für Komponisten. Bei ihr bleibt der Zuhörer tatsächlich draußen vor der Tür, er erhält sozusagen kein Eintrittsbillett. Es liegt mir fern, diese Musik zu verdammen, aber durch sie ist eine völlig neue Situation entstanden. Das selbstreferenzielle Komponieren, das mit dem berühmten Elfenbeinturm zu tun hat. Der Elfenbeinturm hat im Verlauf der letzten zwanzig Jahre ziemlich hörbare Risse bekommen. Vielleicht hängt dies mit dem Verbot der Weltorganisationen zusammen, Elefanten niederzustrecken, um mit dem Elfenbein zu handeln. Gut so. In der Musik herrschen manchmal ähnliche Verhältnisse: Was bis bis zu einem bestimmten Zeitpunkt erlaubt war, darf allmählich nicht mehr verwendet werden; musikalische Mittel, die einst als legitim galten, verlieren plötzlich ihren Fähigkeitsausweis. Die Abgeschiedenheit des Turms diente Montaigne dazu, über die vielen unklaren Facetten des Ichs nachzudenken. Und Hölderlin fand gerade im Turm seine ultimativen Sprachbilder. Das Nachdenken über die Rolle der Musik in den verschiedenen Schichten, die unsere Gesellschaft ausmachen, darf nicht aufhören. Nichts ist klar, solange von Klarheit die Rede ist. Fragen wird es immer genug geben. © 2000 by Max Nyffeler *) Das Gespräch fand am 22.3.2000 in Köln im Hinblick auf die Verleihung des Siemens-Preises 2000 an Mauricio Kagel statt. Es wurde in der Zeitschrift "Lettre", Heft 51 (4/2000) veröffentlicht. Dossier Mauricio Kagel
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