Der Klang aus der Stille der NachtSalvatore Sciarrino, die Sprachkraft der Musik und die Kunst des Hörens
Es gibt Komponisten, die lieben es, ausführlich über sich und ihre Werke zu sprechen, und es gibt andere, die es bei Andeutungen belassen und ansonsten lieber schweigen. Salvatore Sciarrino gehört zu letzteren. Er verliert nicht viele Worte, wenn es um seine Person geht, und die Musik, so findet er, soll für sich selbst sprechen. Sie bedarf keiner Gebrauchsanweisung und schon gar nicht biografischer Begründungen. Dem Gespräch weicht er keineswegs aus, doch er bevorzugt die indirekte Rede, umkreist den Gegenstand mit Vergleichen und Anspielungen, baut ihn ein in ein ganzes Geflecht scharfsinniger Überlegungen zur Kunst und ihrer Wahrnehmung. Knapp, präzis und mit einem fröhlichen Augenzwinkern, das die Lust am Formulieren der Gedanken verrät. Am einzelnen Beispiel entwirft er seine Sicht auf die Welt und ist überzeugt: Im Detail spiegelt sich das Ganze. Naturgesetz und künstlerisches GesetzSeit über vierzig Jahren baut Salvatore Sciarrino an seinem Lebenswerk, geduldig und konzentriert, Stück um Stück. Es hat inzwischen monumentale Dimensionen angenommen und umfasst annähernd zweihundert Titel, die nicht nur alle traditionellen Gattungen abdecken, sondern die Gattungsgrenzen auf experimentellem Weg auch überschreiten. Ein Werk wie Studi per l’intonazione del mare für Solisten, hundert Flöten und hundert Saxophone, die sich im Raum bewegen: Wo innerhalb des klassischen Formenkanons hätte eine solche Komposition, die formal mehr einem Vogelschwarm oder einer Herde als einem herkömmlichen Instrumentalwerk gleicht, auch Platz? Sciarrinos Schaffen, in dem solche musikalischen Massenphänomene, hoch differenzierte Orchesterwerke und halsbrecherisch virtuose Solostücke gleichberechtigt nebeneinander stehen, hat etwas naturhaft Organisches. Indem es sich ohne erkennbare Brüche und Verwerfungen aus einem innersten Kern heraus entwickelt und nur seinen eigenen Gesetzen folgt, besitzt es Ähnlichkeit mit dem Wachsen eines Baums. Aus einem Grundgedanken, der immer wieder neu und anders abgewandelt wird, geht eine unübersehbare Vielfalt an klingenden Erscheinungen hervor. Hinter solchen Schaffensprinzipien verbirgt sich ein fraktales Denken. Sciarrino hat es mit den Mitteln des Künstlers, auf gleichsam intuitive Weise entwickelt. Im Keim ist es bereits in seinen frühen Werken der 1960er Jahre angelegt, also schon einige Zeit bevor Benoît Mandelbrot 1977 seine grundlegende Untersuchung zur Fraktaltheorie veröffentlichte. Darauf verweist Marco Angius, einer der besten Sciarrino-Kenner, in seiner gerade erschienenen Studie Come avvicinare il silenzio. La musica di Salvatore Sciarrino. Der römische Dirigent liefert auch eine treffende, vom kongenialen Verständnis des Interpreten getragene Charakterisierung von Sciarrinos Poetik. Diese Musik, die sich so stark von jeder anderen unterscheide, habe alle unsere Hörperspektiven auf den Kopf gestellt: „Die Tore zur Nacht öffnen sich. Ein fernes Hundegebell, die Grillen. Die Stille, die den geringsten Laut ins Riesenhafte vergrößert. Die Stimmen der Menschen und der Dinge das ganze Spektrum eines Naturalismus von größter Unmittelbarkeit, die Elemente unserer täglichen Wirklichkeit bis zu den Immissionen des Radios und des Telefons, die uns das Leben schwer machen (aber es ist nur ein Orchester). Und dann die Explosionen, die zerschmelzenden Metallklänge, die weite Leere, die uns in ihren Griff nimmt. Das Zerbröckeln der Steine, der in den Instrumenten eingeschlossene Schrei der Tiere, der Wind und der Atem. Wir unterscheiden nicht mehr, wer da atmet: Sind wir es? Der Interpret? Wir wachen auf, mitten im Klang, im Zentrum, und nehmen die Welt auf neue Weise wahr.“ Der Aspekt der Wahrnehmung steht im Zentrum von Sciarrinos Musik. Metaphysische Gedankengebäude, subjektiver Ausdruck, große Menschheitsideen all das, was die Musik seit dem 19. Jahrhundert beflügelt und beschwert hat, ist in ihr sekundär, und wenn es anklingt, dann in einer gänzlich unpathetischen, fast beiläufigen Weise. In ihrem Mittelpunkt steht das scharf beobachtete Einzelphänomen: Der einzelne Mensch in seiner individuellen Zerrissenheit zwischen Liebe und Tod, Machtgier und Verlustangst, das einzelne Klangphänomen. Dieses kann sich in seiner Orchestermusik durch komplexe Überlagerung zum rauschhaft-ätherischen Gesamtklang summieren, es kann sich aber auch, wie in vielen seiner Vokalkompositionen, durch rituelle Wiederholung zur magischen Klangerzählung verdichten. Doch welche Physiognomie ein Werk auch besitzt, der Zuhörer kann sich der Suggestivkraft, die von diesen poetisch verschlüsselten und zugleich unerhört präzis ausgeformten Gebilden ausgeht, nicht entziehen. Sie sprechen im Flüsterton, mit der Faszination des Leisen, und ihre Wirkung ist weit stärker als die der lautstarken Überredung. Der artifizielle Zauber der Streicherflageoletts, die wie ein Feuerwerk am Nachthimmel glitzern, die hartnäckige variative Repetition kleinster Melodiefragmente, die Reduktion des Tonfalls auf Zimmerlautstärke bei gleichzeitig geschärfter Artikulation solche Strategien der Klangrede beherrscht kein Komponist so perfekt wie Salvatore Sciarrino. Das ferne SizilienGeboren wurde er 1947 in Palermo, wo er als Jugendlicher privaten Musikunterricht nahm und seine ersten Aufführungen hatte. Ein Konservatorium besuchte er nie, und Komposition erlernte er weitgehend als Autodidakt. 1969 entfloh er der kulturellen Enge seiner sizilianischen Heimat. Es zog ihn zunächst in die großen Städte des Nordens, nach Rom und Mailand. Später ließ er sich im umbrischen Städtchen Città di Castello nieder, wo er bis heute lebt. „Wie viele Künstler, die sich einzig ihrer Arbeit widmeten, haben sich ins Abseits begeben!“ notierte er 1999. „Und weil ich einer von ihnen sein wollte, machte ich an einem bestimmten Punkt meiner Existenz aus der Frage der Isolation eine methodische Entscheidung. Ich verließ die Metropole und suchte den Schatten.“ Das Moment der Einsamkeit, des Rückzugs auf sich selbst, ist seinen Werken anzuhören. Aus ihm erwächst die konzentrierte Aufmerksamkeit, die der Komponist dem einzelnen Laut, der einzelnen Lautkonstellation zuwendet. Es sind konzentrierte Lebensäußerungen, die beim Hören die Grenze zwischen innerer oder der äußerer Realität zerfließen lassen. Diese Kunst der verfeinerten Wahrnehmung ist verschiedentlich auch mit Sciarrinos sizilianischer Herkunft in Beziehung gebracht worden: Die Stille der Mittagshitze, die ausgestorbene Landschaft und das flirrende mediterrane Licht als Folie, vor der sich diese Art von musikalischer Phänomenologie entfaltet. Sciarrino selbst spricht vom elfenbeinfarbenen Licht in Palermo, das sich aus dem Schatten der Berge und dem Reflex vom Meer her ergebe, doch er fügt an, dass ihm die Atmosphäre im Winter ohne die grelle Sonneneinstrahlung lieber sei. Neben der intensiven Erfahrung der Natur mag auch die vielschichtige kulturelle Vergangenheit der Insel ihre Spuren in seinem Denken hinterlassen haben. Luigi Nono hat das in einer Programmheftnotiz zur Aufführung von Sciarrinos Violinkonzert Allegoria della notte 1987 in Tokio stichwortartig angedeutet: „Sizilianische Kultur, Kreuzung anderer unterschiedlicher Kulturen Arabisch Griechisch Phönizisch Assyrisch-Babylonisch Punisch Spanisch Normannisch Schwäbisch Goethe- Hölderlin Vincenzo Bellini Pirandello Verga die Pythagoräer.“ Figuren des Denkens, Verzweigungen des GeistesDie Formulierung, charakteristisch für den späten Nono, erinnert an die gedankliche Komplexität, die sich hinter der hermetischen Oberfläche von Sciarrinos Kompositionen verbirgt. Sie ist das Resultat weitläufiger kultureller Reflexionen. In einem Vortragszyklus unter dem Titel Le figure della musica da Beethoven a oggi („Die Figuren der Musik von Beethoven bis heute“), der später auch den Stoff für ein prachtvoll illustriertes Buch abgab, stellte Sciarrino 1995 in Rom diese Gedanken zur Diskussion. Figuren sind für ihn „Schlüsselbegriffe der musikalischen Konstruktion“, die epochenübgreifend Gültigkeit haben und ihre Entsprechungen in andern Denkbereichen, von den Künsten bis zur Wissenschaft, finden. An ihnen macht er sowohl den Traditionsbezug der heutigen Musik als auch die strukturellen Querverbindungen speziell zu den visuellen Künsten fest. Die Figuren verweisen auf bestimmte Organisationsformen des menschlichen Geistes und damit auf die gemeinsamen Wahrnehmungsstrukturen, die den unterschiedlichen Denk- und Schaffensbereichen zugrunde liegen. Das illustriert Sciarrino an Kunstwerken aus allen Zeiten und Kulturen. Er vergleicht die Architekturen aus dem südindischen Königreich Vijayanagara mit der Struktur des Sonnenaufgangs in Ravels Daphnis et Chloé und setzt die Rauminstallationen des Designers Carlo Bugatti mit Strawinskys Sacre in Beziehung, er analysiert die unterschiedlichen Perspektiven auf das Innere der Kuppelbauten von Francesco Borromini und stellt fest, dass in den Bildern des von ihm hoch geschätzten Alberto Burri und in alten persischen Teppichen ähnliche Verfahren zur Anwendung kommen. Der scharfe Blick, mit dem er das Wesentliche und Gemeinsame am Verschiedenen erfasst, verrät den exzellenten Kenner der visuellen Künste. Aus der Nähe Sciarrinos zur Malerei lässt sich leicht schließen, dass seine Musik einer statischen, geschlossenen Konzeption näher steht als den entwickelnden Verfahren in der Tradition von Beethovens bis Schönberg. Seine Werke sind architektonisch-räumlich konzipiert, wobei der Begriff des Raums sich bei ihm weniger auf die äußeren Gegebenheiten der Aufführung bezieht als auf den inneren, imaginären Raum der Musik. Doch entwicklungslose Musik heißt nicht Musik ohne Dramatik. Diese ist bei Sciarrino ins Innere des Klangs und der Textur verlegt und erfüllt seine Musik mit einer Binnenspannung, die in den Vokalwerken bisweilen die Qualität von atemberaubender Beklemmung annehmen kann. Bei der Ökonomie der Mittel, die seine Partituren auszeichnet, können schon geringste Ereignisse mächtige Erschütterungen auslösen. So etwa in dem 1998 bei den Schwetzinger Festspielen uraufgeführten Bühnenwerk Luci mie traditrici über den Komponisten und Gattenmörder Gesualdo di Venosa. Zwei Akte lang herrscht hier ein Tonfall des zurückgehaltenen Affekts vor, die Musik klingt wie hinter einem Schleier und entfaltet ihre größte Intensität in den leisen Registern; die wenigen Akzente, die dann im Moment des Mordes musikalisch hervortreten, wirken nach der aufgestauten Spannung wie eine Explosion. Der MusikdramatikerSciarrino ist ein genuiner Musikdramatiker, und seit seinem 1972 in Mailand an der Piccola Scala uraufgeführten Erstlingswerk Amore e Psiche ziehen sich die szenischen Werke wie ein roter Faden durch sein gesamtes Schaffen. Sie wenden sich zeitlosen Sujets zu wie der ausschließlich von elektronischen Klängen begleitete Einakter Perseo e Andromeda und kreisen um moderne Mythen wie der Dreiteiler Cailles en sarcophage, in dem Greta Garbo und Salvador Dalí auftreten, sie greifen Stoffe aus der Literatur- und Operngeschichte auf wie das als „unsichtbare Handlung“ konzipierte Monodram Lohengrin nach Jules Laforgue, sie haben die Form einer konzertanten Szene wie Vanitas, ein traumentrücktes Stillleben in einem Akt für Stimme, Violoncello und Klavier. Es sind symbolistisch verschlüsselte Dramen mit einer Handlung, die sich ganz im Inneren der Personen abspielt und sich dem Zuschauer in erster Linie über die Musik erschließt. Das gilt auch für ein blutiges Kammerspiel wie Luci mie traditrici, während seine moritatenhafte Paraphrase La terribile e spaventosa storia del principe di Venosa e della bella Maria den Stoff mit den archaischen Darstellungsmittel des Puppentheaters aufbereitet. Eine Abwendung von einer auf die äußere Realität bezogenen Erzählweise ist schließlich auch in der Shakespeare-Vertonung Macbeth zu beobachten, wo nicht die historische Tragödie, sondern der archetypische Trieb der Machtausübung und Aggression im Zentrum steht. Dass Sciarrinos Bühnenwerke so suggestiv und in sich stimmig erscheinen, hängt zweifellos auch damit zusammen, dass er seit Vanitas (1981) seine Libretti, die häufig aus zahlreichen Textquellen extrahiert sind, selbst verfasst. Als Textdichter und Komponist, manchmal auch noch als Bühnendesigner in einer Person erreicht er, was anders kaum möglich wäre: Eine Form der Darstellung, in der die verschiedenen Elemente Text, Musik und Szene in einen dramatischen Sog hineingezogen werden, der jede äußere Wirklichkeit verschlingt. Die bestimmende Kraft in diesem Verwandlungsprozess bleibt allerdings stets die Musik. © 2008 Max Nyffeler Dossier Salvatore Sciarrino
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