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Das Innen und Außen der Zeit:
Zur Musik von Bettina Skrzypczak
Von Max Nyffeler
Einer der fünf Liedertexte aus
dem Zyklus "Landschaft des Augenblicks" für Mezzosopran, Viola und
Klavier, den Bettina Skrzypczak 1992 über Gedichte polnischer Autoren
komponierte, ist in Inhalt und Ausdruck denkbar knapp gehalten: "Jemand
bekam einen Brief. Jemandem klopfte das Herz. / Er geht, ihn zu lesen,
unter den Apfelbaum. / Er liest, fasst sich an den Hals / und verliert
den Boden, und versinkt in der Luft." Das Gedicht mit dem Titel "Der Brief"
stammt von Maria Pawlikowska-Jasnorzewska (1894-1945). Die sprachliche
Konzentration wird in der Vertonung beibehalten, die Deklamation der Singstimme
ist auf ein Minimum reduziert. Das psychische Drama spielt sich vor allem
in der ausgedehnten Instrumentalbegleitung ab. Die telegrammartigen Gedichtzeilen
wirken als Auslöser dieser musikalischen Kommentare, die die Zeit
sich ausdehnen, anhalten und vorwärtsstürzen lassen.
Zwei Dimensionen der Wirklichkeit
Dem Vokalzyklus liegt eine musikalischen
Idee zu Grunde, die Texte wurden von der Komponistin hinterher passend
dazu ausgesucht. Ausgangspunkt ist die Vorstellung einer Verschachtelung
verschiedener Zeitebenen. Der Fluss der realen Zeit wird immer wieder durchbrochen
von Momenten der Erinnerung, der Reflexion und Fantasie, in denen eine
Dimension aufblitzt, die jenseits unserer Erfahrung liegt. Im flüchtigen
Augenblick eröffnet sich uns eine Perspektive auf das Unbekannte,
das hinter unserer täglichen Realität verborgen ist.
Für diese
doppelte Art von Wirklichkeitswahrnehmung beruft sich Bettina Skrzypczak
auf den französischen Epistemologen und Mathematiker René Thom.
Er vergleiche die jenseitige Dimension mit einem Gas, das durch die Ritzen
unserer Wirklichkeitsoberfläche eindringt und so zur Bildung von visuellen
Figuren oder Gestalten führt:
Es gibt bei Thom zwei wahrnehmbare
Komponenten, eine ist sichtbar, und die andere ist die verborgene Welt.
Für mich ist die Kunst der Moment, wo diese beiden Welten zusammenstoßen.
Die geistige Substanz ist etwas, was außerhalb der Realität
liegt, aber in die Realität eindringt und eine Form annimmt.
Hier, an diesem osmotischen Punkt, befindet
sich für sie der Ort auch ihrer eigenen Kunst. Komponieren ist für
sie weit mehr als die zeitliche Organisation von Klängen nach bestimmten,
aufs Material und seine Wahrnehmung bezogenen Gesetzen. Nicht dass sie
die Aspekte von Material und Struktur geringschätzen würde. Doch
sie verabsolutiert sie nicht, wie es in der westeuropäischen Avantgarde
jahrzehntelang geschah und zum Teil immer noch immer geschieht. Musik ist
für sie vielmehr ein Medium, das die beiden erwähnten Dimensionen
unserer Wirklichkeitserfahrung umgreifen und uns dadurch für kurze
Momente das Glücksgefühl einer umfassenderen Existenz vermitteln
soll. Daraus resultiert auch ihre stets wache künstlerische Neugierde.
Der Aspekt ist für
mich zentral. Es gibt eine Vielfalt an Möglichkeiten, diese Begegnung
ausdrücken. Das ist das Faszinierende: das Suchen und die Freude am
Entdecken von neuen Möglichkeiten, die oft zusammenhängen, aber
immer wieder andere Formen annehmen. Es ist so etwas wie die Freude, das
Leben zu entdecken - die sichtbaren Formen, die uns umgeben.
Die verändernde Kraft des Subjekts
1993 schrieb Bettina Skrzypczak
das Orchesterstück "SN 1993 J", das im gleichen Jahr bei der Biennale
in Venedig uraufgeführt wurde und danach unter anderem auch bei der
Münchner "Musica Viva" erklang. Der kryptische Titel bezieht sich
auf den Namen einer damals neu entdeckten Supernova, und damit ist auch
das inhaltliche Assoziationsfeld der Musik angedeutet: die Vorstellung
einer kochenden, in sich unendlich bewegten Materie ohne feste Konturen.
Es entsteht der Eindruck eines gasförmigen Aggregatzustands. Musikalisch
zeigt sich sich das in fluktuierenden Energieströmen und ist von dem,
was Edgard Varèse "organised sound" nannte, nicht allzu weit
entfernt. Diese Energieströme sind nicht nur durch den unablässigen
Wechsel von Dynamik, Dichte und Geschwindigkeit gekennzeichnet, sondern
auch durch eine Instrumentierung, die mit ihrem vielfältigen Changieren,
ihren weit aufgefächerten, irisierenden Klanggemischen und blitzschnellen
Wechseln von Licht und Schatten an die Nervenkunst eines Claude Debussy
erinnert.
Das aus der französischen
Tradition stammende Klangverständnis steht der Polin Bettina Skrzypczak
zweifellos näher als der Expressionismus der Schönbergschule
oder die Nüchternheit des Neoklassizismus. Auch führt von Debussy
eine Traditionslinie zur polnischen Avantgarde, etwa zu Kazimierz Serocki,
bei dem der Klang eine formbildende Funktion hat - eine Konzeption, die
der Komponistin manche Anregungen gebracht hat. Doch in "SN 1993 J" verbindet
sich die Idee eines in unendlich vielen Farben leuchtenden Orchesterklangs
noch mit der Vorstellung eines erkennenden Ich, das der unbelebten Materie,
die sich im Orchestertutti manifestiert, entgegentritt, sie reflektiert
und dadurch verlebendigt. Musikalisch realisiert sich das so, dass aus
der kochenden Materie immer wieder kurze instrumentale Soli hervortreten,
in denen sich die kollektive Energie bricht, aus denen diese Energie umgekehrt
aber auch immer wieder neu hervorschießt. Dichte und Instrumentierung
sind in diesem Stück extremen Wechseln unterworfen. Es gibt neben
den solistischen auch viele kammermusikalisch durchsichtigen Partien, die
dem Orchesterstutti gegenübergestellt sind.
Das ist ein ständiger
Kampf, eine ständige Verwandlung. Obwohl sie sehr dynamisch und unüberschaubar
angelegt sind, sollten diese Vorgänge den Eindruck erwecken, dass
sie einen Schwerpunkt, ein Ziel haben - so etwas wie einen Punkt, auf den
sie sich richten. In diesem Fall ist es das, was ich als das "Subjekt"
dieses Stücks bezeichnen würde. An dieses wenden sie sich.
Die Dialektik von unbelebter, wenn auch
extrem bewegter Materie und wahrnehmendem Subjekt durchzieht das ganze
Stück als spannungsvolles Ineinander von Tutti und Soli. Doch erscheint
das Subjekt keineswegs nur als erleidendes, passiv wahrnehmendes Element.
Gegen Schluss wird ein längeres Violinsolo sogar zum dezidiert agierenden
Part: Es ist Auslöser eines tumultuösen, vorwärtstreibenden
Prestos, dessen motorische Energie sich in einem Auflösungsfeld bricht
und einer abschließenden Reflexion der Soloflöte Platz macht.
Das letzte Wort hat also das Subjekt. Das ungreifbar ferne galaktische
Geschehen wird aufgehoben durch menschliche Nähe, im Inneren des menschlichen
Ichs.
Ein souveräner
Umgang mit der Farbenpalette des Sinfonieorchesters kennzeichnet Bettina
Skrzypczaks Komponieren von Anfang an. Schon in "Verba", uraufgeführt
1989 bei der Biennale Zagreb unter der Leitung von Arturo Tamayo, zeigt
sich ein ausgeprägter Sinn für sprühende Farben und die
Gestaltung von weiten Klangräumen. 1987, als sie das Werk schrieb,
war die Komponistin 25 Jahre alt und in Polen bereits so etwas wie ein
Shooting Star mit zahlreichen Aufführungen in Warschau, Posen, Krakau
und andern Orten.
Von Posen nach Basel
Bettina Skrzypczak wurde 1962 in
Poznan/Posen geboren. Sie studierte erst Klavier, dann Komposition bei
Andrzej Koszewski sowie Musikwissenschaft. Ihre frühen Studienjahre
fielen in die Zeit des Kriegsrechts in Polen und der politischen Unruhen,
die den Auftakt für den Zusammenbruch des "sozialistischen Lagers"
bildeten und zehn Jahre später zum Fall der Berliner Mauer führten.
Die Menschen beschäftigten sich damals in Polen mit fundamentalen
Fragen wie soziale Verantwortung und Freiheit, Selbstbestimmung des Individuums
und die Rolle der Kultur im Kampf um nationale Unabhängigkeit. Es
waren Fragen, die für die polnische Nation von existenzieller Bedeutung
waren und es auch heute noch sind. Sie haben vermutlich auch im Werk der
Komponistin bleibende Spuren hinterlassen. Ab 1984 besuchte sie in Kazimierz,
dem "Polnischen Darmstadt", Kurse bei Luigi Nono, Henri Pousseur, Witold
Lutoslawski und Iannis Xenakis - alles Komponisten, die ihre künstlerische
Arbeit nachhaltig beeinflusst haben. Damals entstand auch ihre kurze Tonbandkomposition
"ABC", eine verspielt-poetische Arbeit, der der Klang ihrer eigenen Stimme
und eines kleinen Schlagzeugs zugrundeliegt.
Dann kam 1988
ihre Übersiedlung in die Schweiz, wo sie seither lebt. Hier, in Basel,
begann sie gleichsam wieder am Punkt Null: Da und dort kleine Aufführungen,
ergänzende Studien in Elektronik bei Thomas Kessler und in Komposition
bei Rudolf Kelterborn, Improvisationserfahrungen mit Walter Fähndrich,
Computermusik in Köln bei Klarenz Barlow, weitere Studien in Philosophie
und Musikwissenschaft in Freiburg/Schweiz und, bei gelegentlichen Heimataufenthalten,
in Krakau. Hier machte sie 1999 ihren Doktor in Musikwissenschaft. An der
Musikhochschule Luzern unterrichtet sie seit 1995 Theorie, Musikgeschichte
und Musikästhetik. Ein Leben zwischen der polnischen Heimat und dem
freigewählten Schweizer Exil, mit zahlreichen Aufführungen und
wachsendem künstlerischem Ansehen in beiden Ländern. In der dazwischenliegenden
Bundesrepublik Deutschland gab es bisher seltsamerweise nur spärliche
Aufführungen, etwa die bereits erwähnte in München und eine
in Berlin. Aber das dürfte sich wohl noch ändern.
Landschaft als Symbol
Die "Fantasie über polnische
Landschaften" für Oboe solo aus dem Jahr 1997 ist ein Werk, das in
Polen mehr gespielt wird als in der Schweiz. Das hat mit dem gedanklichen
Hintergrund des Werks zu tun. Der Titel klingt nach Naturbild und Landschaftsromantik,
doch es ist weit entfernt von solchen Naturalismus-Klischees. Von den Landschaftsmalern
des 19. Jahrhunderts bis zu einem heutigen Schriftsteller wie Czeslaw Milosz
ist der Begriff der Landschaft in der polnischen Kunst von komplexen Bedeutungsschichten
überlagert, die insgeheim auf den Begriff der Nation verweisen, wie
Bettina Skrzypczak erläutert:
Weil die Identität
des polnischen Volkes historisch immer wieder gefährdet war, verband
man mit der Landschaft Vorstellungen des Überlebens und des Verwurzeltseins.
Das gilt besonders für die Landschaft der Tatra. Man kann es beobachten
in der Musik von Szymanowski, aber auch in der Bewegung des "Jungen Polen",
der künstlerischen Elite von Krakau zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Auch die Schriftsteller der Gegenwart befassen sich mit dem Thema Landschaft.
In all diesen Werken ist sie mit einer Symbolik verbunden, mit etwas Verzaubertem,
das dahinter liegt. Auch für mich bedeutet Landschaft mehr als etwas
rein Bildliches. Man kann noch weiter zurück gehen. Die Musik von
Chopin ist eigentlich voll von Bildern der Landschaft. Das klingt jetzt
sehr programmatisch, aber ich meine es nicht so. Ich meine damit eine Art
Atmosphäre der Landschaft. Es gibt sogar so etwas wie einen Duft in
der Musik, etwas Übersinnliches, was dadurch hereinkommt.
In der polnischen Mentalität
hat sich so etwas wie eine doppelte Sprache entwickelt, sowohl in der Kunst
als auch im täglichen Leben Das hängt mit der geschichtlichen
und politischen Situation zusammen. Parallel zur normalen Sprache existiert
eine Art Metasprache: Man sagt etwas, meint aber etwas ganz anderes dabei
und trotzdem verstehen die Menschen einander. Alle wissen, welche Symbolik
sich hinter einem bestimmten Bildern verbirgt. Ich würde diese Symbolik
als etwas Metaphysisches, etwas außerhalb der Realität Liegendes
bezeichnen - einen Raum, in den man fliehen kann, wo man sich geborgen
fühlt und überleben kann, wo man sich anders verständigen
kann. Das eröffnet einem die wunderbare Möglichkeit, anders als
nur in direkter verbaler Sprache zu kommunizieren.
Diese Dimension versucht Bettina Skrzypczak
mit ihrer Musik zu erschließen. Der Raum, in der zeitgenössischen
Musik ein fast inflationär benutzter Begriff, mit dem - eine Plattitüde
- häufig nur gerade die topographische Aufstellung der Musiker im
Konzertsaal gemeint wird, dieser Begriff wird von ihr strikt symbolisch
verstanden: als Ineinanderfließen oder Durchdringung von äußerem
und von innerem, nicht empirisch fassbarem Raum. Das geschieht in der Oboenfantasie,
das geschieht in anderer Form im eruptiven Orchesterstück "SN 1993
J" und in vielen anderen Stücken.
Das Gedächtnis des Körpers
Zugleich besitzt dieser imaginäre
Raum für sie einen eminent diesseitigen Bezug. Vermittelt ist er durch
Körpererfahrung, genauer: durch die Erfahrung der eigenen Leiblichkeit
in dem Sinne, wie es der Philosoph Georg Picht beschrieben hat. Der Leib,
so Picht, ist etwas anderes als der Körper. Dieser wird in seiner
mechanischen Funktionalität wahrgenommen, den Leib empfindet der Mensch
jedoch als eine Potenz innerhalb einer unendlichen Vielzahl sich überschneidender
Kraftfelder.
Die Emotionen, die in meine
Musik einfließen, sind oft mit dem Gefühl des Raumes und des
Körpers verbunden. Als junges Mädchen habe ich getanzt und auch
Kunstgymnastik betrieben. Und ich erinnere mich immer an das Gefühl
des Im-Raum-Seins und der Körperlichkeit im Raum. Etwas davon ist
mir bis jetzt geblieben, in ganz anderer Form, natürlich. Meine räumlichen
Vorstellungen sind mit dieser körperlichen Raumwahrnehmung verbunden,
den Raum gehend auszumessen, die unterschiedliche Geschwindigkeit, die
Dynamik und Statik des Raums usw. zu spüren. Dazu gehören auch
körperlicher Schmerz und Entspannung, die Anstrengung des Körpers
und die ganze Dynamik, die damit verbunden ist. Ich würde sogar sagen:
Immer wenn ich eine Idee habe, ist sie mit einem körperlichen Schmerz
verbunden. Das ist so etwas wie Geburtsschmerz, bei dem man zugleich auch
glücklich ist, weil etwas geboren wird. Ich habe dann ein ganz starkes
Gefühl, dass mit mir körperlich etwas passiert.
Bei ihrer Einschätzung der Rolle,
die die Körperlichkeit im künstlerischen Schaffensprozess spielt,
sieht sich Bettina Skrzypczak durch die Wissenschaft bestätigt:
Es wird einem noch bewusster,
wie wichtig dieses Element im künstlerischen Schaffen ist, wenn man
die neusten Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Neurologie, Biologie
oder Medizin anschaut. Man hat nämlich entdeckt, dass es so etwas
wie ein Gedächtnis der verschiedenen Körperteile gibt. Das heißt,
verantwortlich für unser Gedächtnis ist nicht nur das Gehirn,
sondern unser ganzer Körper ist mitbeteiligt. Dass wir uns durch unsere
Körperlichkeit artikulieren und dass unser ganzes emotionales Leben
damit verbunden ist, vergessen wir oft.
Eine ganzheitliche Auffassung von Musik
und von Komponieren findet sich bei Bettina Skrzypczak nicht nur in diesem
Konzept von Leiblichkeit, sondern auch in ihrem Interesse für
die Chaostheorie. Als sie diese Anfang der neunziger Jahre für sich
entdeckte, fand sie darin eine Bestätigung für ihre eigenen musikalischen
Spekulationen, die in dieselbe Richtung zielten. An der Chaostheorie interessierte
sie jedoch nicht in erster Linie die technische Seite, die mathematischen
oder physikalischen Methoden der Materialorganisation.
Ausgegangen bin ich von
etwas ganz anderem: von der romantischen Literatur, vor allem von Novalis.
Er spricht vom "vernünftigen Chaos" und meint damit eine sehr komplexe,
unüberschaubare Welt, die aber einen großen Sinn in sich hat.
Diese Aspekte haben mich besonders interessiert. Auch mein eigenes Komponieren
empfinde ich als einen Versuch, immer neue Fragmente der Welt zu erforschen
und einen Sinn in ihnen zu finden. Mir ist bewusst , dass ich nur eine
sehr beschränkte Anzahl solcher Entdeckungen machen kann. Aber ich
glaube, gerade das gibt uns sowohl im Leben als auch im Schaffensprozess
die notwendige Dynamik. Diese immer veränderbare Perspektive, der
Horizont, den wir nie erreichen - das ist die Ursache für das Bedürfnis,
immer neue Fragmente zu entdecken und zu fassen. Das ist der Motor von
allem.
Das Bewusstsein, das Ganze oder die
Vollkommenheit immer nur anstreben zu können und im Fragmentarischen
stecken bleiben zu müssen, ist für Bettina Skrzypczak eine allgemein
menschliche Voraussetzung, die sie dankbar akzeptiert. Als eine Art fröhlicher
Sisyphus sieht sie in den Begrenzungen vor allem die Chance des jederzeit
möglichen Neubeginns. So versinkt sie weder in faustischem Grübeln,
noch überlässt sie sich dem unfrohen Stochern in reinen Materialproblemen.
Komponieren erschöpft sich für sie ohnehin nicht in reiner Verstandestätigkeit.
Das beste Korrektiv gegen die in der neuen Musik oft zu beobachtende Verabsolutierung
der intellektuellen Seite ist für sie das bereits erwähnte Moment
der Körperlichkeit.
Wenn man nur intellektuell
ein System gestaltet und sich nur in diesem System bewegt, dann fehlt dieses
Moment der Körperlichkeit. Doch es ist etwas fundamental Menschliches.
Der Mensch empfindet die Welt durch seinen Körper. Nur dadurch kann
er auch entsprechend kommunizieren. Wenn das dann ins Emotionelle
hineinfließt, nimmt es unglaublich viele Formen an, die uns wahrscheinlich
gar nicht bekannt sind.
Form und Fragment
In ihrem 1993 entstandenen 3. Streichquartett
drückt sich das Gefühl, in einem immer wieder neu zu erschließenden
Raum mit der Welt kommunizieren zu können, in einem ständigen
Wechsel der Perspektiven und Ausdruckshaltungen aus. Anders noch als in
dem zwei Jahre älteren 2. Quartett werden hier nicht große Blöcke
und Entwicklungen nebeneinander gestellt, sondern die Kontraste erfolgen
auf kleinstem Raum: Kaum hat etwas begonnen, bricht es schon wieder ab
oder schlägt um in etwas Neues. Auch hier liegt, wie im gleichzeitig
entstandenen Liederzyklus "Landschaft des Augenblicks", die Wahrheit der
Musik im momenthaften Aufblitzen einer andern Realität. Doch eine
nur auf den Moment bezogene, fragmentarisierte Form besitzt das Werk ebenso
wenig wie alle anderen. Ein Netz von unauffälligen Orientierungspunkten
gewährleistet ein hohes Maß an strukturellem Zusammenhang. Dazu
gehören eine Art von Leitakkorden, die an wichtigen Punkten auftreten,
melodische Kernmotive und Ähnlichkeiten von Satztypen und Ausdruckscharakteren.
Es sind variable Elemente und keine unveränderlichen Größen,
wodurch die Konturen dieser hintergründigen Ordnungsstruktur bewusst
verwischt werden. Im Orchesterstück "SN 1993 J", arbeitete die Komponistin
konsequent mit Intervallfeldern und genau determinierten Akkordstrukturen,
um die Form zu gliedern. Weitere Parameter sind der harmonische Dichtegrad
- die Harmonik kann gleichsam "voll" oder "leer", also unterschiedlich
komplex klingen - der Klangfarbenverlauf oder die Bewegungsintensität.
Manche dieser
Verfahren kristallisieren sich zu musiksprachlichen Qualitäten. Eine
öfters wiederkehrende melodische Figur entsteht zum Beispiel durch
die Verengung der Intervalle; die Melodie pendelt um zwei oder drei Halbtöne,
wobei sich die Bewegung manchmal auch zu Mikroglissandi verfeinern kann.
Bei Überlagerung zweier Stimmen kann das zu einer unerhörten
Ausdrucksdifferenzierung führen.
Ein Werk, in
dem diese Halbtonstrukturen in der unterschiedlichsten Weise in Erscheinung
treten, ist "Miroirs", der zweite kammermusikalische Liederzyklus nach
"Landschaft des Augenblicks" aus dem Jahr 2000. Sie stehen auch hier unmittelbar
im Dienst einer Verdeutlichung des Inhalts. Die verwendeten Texte stammen
von Autoren aus vier Kulturen: Jorge Luis Borges, vom Chinesen Li Tai-bo,
vom provenzalischen Troubadour Bernart de Ventadorn und vom Sufi-Dichter
Satschal Sarmast; alle vier umkreisen die Thematik des Spiegels. Die Komposition
geht dieser Thematik bis in ihre philosophischen Verästelungen hinein
nach und bricht sie, oder, um im Bild zu bleiben: reflektiert sie immer
wieder im Affekt des wahrnehmenden Ichs. Im letzten Lied über einen
Text des Sufi-Dichters Satschal Sarmast wird die Frage der Selbsterkenntnis,
das "Wer bin ich?", zugespitzt zur Frage "Bin ich überhaupt?" Ganz
der Sufi-Tradition folgend fallen Fülle des Lebens und Vergeistigung
paradox ineins; der üppige musikalische Figurenreichtum und die kapriziös-beredte
Singstimme weichen nach dem klanglichen Höhepunkt einem erschrockenen
Innehalten.
.
Mit Mireille Capelle, der Sängerin
der Uraufführung von "Miroirs"
Wenn Bettina Skrzypczak davon spricht,
dass jedes Kunstwerk immer nur Fragmente eines möglichen Ganzen darstellen
könne und sich dabei auf Novalis beruft, bedeutet das noch kein Plädoyer
für eine offene Form. Alle ihre Kompositionen sind vielmehr auf eine
überlegte Weise durchgestaltet, formale Konsistenz verbindet sich
mit einem sicheren Gespür für eine spannungsvolle Dramaturgie.
In ihren jüngeren Werken hat sich die Tendenz zur Durchkomposition
verstärkt. Der Klangfluss hat einerseits eine hohes Maß an Geschmeidigkeit
erreicht, andererseits wird er vermehrt auch akzentuiert durch dramatische
Zuspitzungen und heftige Energieentladungen. Das gilt nicht nur für
ein wortgebundenes Stück wie "Miroirs", sondern auch für ein
Instrumentalwerk wie die 1999 entstandene "Toccata sospesa" für
Flöte und zwei Schlagzeuger. Hier wechseln sich verschiedene Agreggatszustände
des Klangs ab: Blitzhafte Explosion, vorwärtstreibende Linearität,
Auflösung in Klangflächen. Ein veritables Schlagzeugsolo gibt
es in der Mitte auch. Es kippt - im Sinn des Titels "Toccata sospesa" -
nach zweiminütigem Temporausch um in eine weitgehende Leere, ein kaum
hörbares Abtasten von Raum und Zeit.
Die geistig-körperlichen
Gespanntheit, die der Musik von Bettina Skrzypczak innewohnt, manifestiert
auch in der Form von instrumentaler Virtuosität. In zwei Instrumentalkonzerten
- einem Oboen- und einem Klavierkonzert - wird dieser Aspekt ins Zentrum
gerückt. Die Konzeption der Solostimme und ihres Verhältnisses
zum Orchester ist beide Male jedoch sehr unterschiedlich. Im Oboenkonzert
von 1996 erscheint die Oboe wie ein obligates Orchesterinstrument; es löst
sich in immer neuen Ansätzen vom Gesamtklang ab und entfaltet dabei
ein breites Spektrum von Blastechniken, um sich von seinem klanglichen
Umfeld zu emanzipieren. In dem zwei Jahre jüngeren, für Massimiliano
Damerini geschriebenen Klavierkonzert hingegen steht das sehr virtuos geführte
Klavier ganz im Mittelpunkt des Geschehens. Das Orchester dient als eine
Art Projektionsfläche für die vielfältigen Klangfiguren,
die aus dem Energieüberschuss des Soloinstruments heraus entstehen.
Das Stück zeichnet sich durch geballte Kürze aus; es dauert keine
Viertelstunde und endet nach einer längeren reflexiven Passage in
einer fulminanten Klimax. Selten wird die Kunst zu schließen in so
überzeugender Weise vorgeführt.
© 2000 Max Nyffeler
(11/2000)
Dossier Bettina Skrzypczak
Homepage Bettina Skrzypczak
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