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Neue Subjektivität (I):

Die Jungen Wilden der siebziger Jahre

Wie Wolfgang Rihm, Manfred Trojahn, Hans-Jürgen von Bose und andere die Vorschriften mißachteten und Carl Dahlhaus in Darmstadt einen Eiertanz machte

Ausbrechen in die Randbereiche, Reduktion auf einfachste melodische und harmonische Figuren und auf die nackten Schläge der großen Trommel: Schlußstrophe und Nachspiel von Wolfgang Rihms Wölfli-Liederbuch gehen ins Extrem. Es gibt nur Ganz laut und Ganz leise, Schlag und Stille. Alle Zwischenwerte werden ausgeblendet. Statt prozeßhafter Verläufe holzschnittartige Kontraste, statt struktureller Vermittlung der schmerzhafte Zusammenprall. Die Komposition über Texte des geisteskranken Adolf Wölfli bricht mit allem, was ein Jahrzehnt zuvor in der neuen Musik noch als diskursfähig galt. Die Frage: "Ja, darf man denn das?" bringt die Musik mit ihrer Kraftgebärde zum Verstummen. Der Ausdruckswille des Künstlers ist absolut:

"Wölfli arbeitet wie irr, schreibt und zeichnet wie wahnsinnig, bemalt alles wie verrückt, baut wie von Sinnen"

schreibt Wolfgang Rihm über die donnernden Paukenschläge dieses Nachspiels, einer Metapher für entfesselte Schaffenskraft. Die auf Schumann zurückgehende Kunst des instrumentalen Liedepilogs wird hier ins Monströse gewendet.

Kompositionen wie das Wölfli-Liederbuch von Wolfgang Rihm brachen mit ihren rückhaltlos subjektiven Setzungen alle bislang geltenden ästhetischen Tabus. Die Frage, ob so etwas denn erlaubt sei, bewegte in den siebziger Jahren manche Kritikerseele und manches theoretische Gewissen. Die Kontroversen zeigten an, daß damals in der deutschen Musikszene nicht nur ein Generationenwechsel, sondern auch ein Paradigmenwechsel stattfand. Vollzogen wurde er durch eine Reihe von Komponisten, die in den Jahren um 1950 geboren wurden und nun gerade Anfang zwanzig waren. Neben Wolfgang Rihm waren das etwa Manfred Trojahn, Hans-Jürgen von Bose, Detlev Müller-Siemens und Wolfgang von Schweinitz. Auch die etwas älteren Ulrich Stranz und Peter Ruzicka, geboren 1946 und 1948, können dazugerechnet werden.

Sie alle traten mit der erklärten Absicht in die Öffentlichkeit, weniger konstruktiven Ideen als vielmehr ihren inneren Impulsen und Ausdrucksbedürfnissen zu folgen. In ihrer Musik manifestierte sich eine neue Subjektivität, die sich an keine Regeln gebunden fühlte, keine Angst vor historisch verbrauchten Materialien hatte und auf die Kommunikationsfähigkeit des unmittelbaren Ausdrucks baute.

Manfred Trojahn notierte zu Architectura caelestis für Frauenchor und Orchester, komponiert in den Jahren 1974/75:

"Das Stück ist ein auskomponierter Abschied von der Mikropolyphonie, vom Cluster, von der Klangfarbenspekulation und vor allem von dem, was man heute noch Avantgarde nennt." (1)

Der erwähnte Paradigmenwechsel wird in diesem Stück kompositorisch ausformuliert. Die an Ligeti erinnernden mikropolyphonen Gewebestrukturen, die das Werk über längere Strecken prägen, öffnen sich gegen Schluß zu einer weiten homophonen, durch einzelne musikalische Gestalten belebten Fläche.

Unaufdringlich, aber dezidiert artikuliert sich hier eine Opposition zur Musik der unmittelbar vorangehenden Generation. Trotz der Tatsache, daß sich ihre Protagonisten ästhetisch immer weiter auseinanderbewegten, fühlte sich diese vorangehende Generation einem unausgesprochenen Konsens verpflichtet: dem Konsens des konstruktiven Denkens, dessen Wurzeln letztlich im Serialismus der fünfziger Jahre lagen. Zu diesem Denken gehörte die Überzeugung, daß Komposition etwas mit planender Vorausschau, mit rationaler Prädisposition des Materials und der Formen zu tun habe, etwa so, wie ein Architekt ein Bauwerk auf dem Reißbrett entwirft. Dazu gehörte auch der Glaube an einen wie auch immer verstandenen Fortschritt auch in der Kunst. Diesen Konsens kündigte ein Teil der Jungen nun auf. Doch es war nicht so, daß sie sich in ihren Werken absichtsvoll polemisch "gegen die Alten" gerichtet hätten. Anfänglich ignorierten sie deren Vorgaben einfach; erst auf Umwegen kamen sie dazu, sich mit ihnen kritisch auseinanderzusetzen. In einem Gespräch mit Peter Dannenberg im Jahr 1978 resümierte Manfred Trojahn diesen Bewußtseinsprozeß:

"Da ich erst mit 20 Jahren gewissermaßen aus der Provinz kommend die musikalische Entwicklung etwa von 1950 an überblicken lernte, habe ich mich immer ein wenig als Außenseiter fühlen können, der die sich stellenden Probleme nicht mit der wissenden Miene des Neuerung gewöhnten Insiders aufzunehmen brauchte, sondern ich habe mich oftmals gestört gefühlt, es fiel mir schwer, manches zu verkraften. Vor allem weil ich wußte: das ich gar nicht so neu, es kommt dir nur so neu vor. Aus dieser Haltung heraus ergab sich aber die Möglichkeit bewußter Durchdringung und echter, unermüdeter Kritik, die mich dann in einen gewissen Abstand gerade zu den Produkten der sechziger Jahre brachte, wenn ich einmal so vereinfachen darf. Als abwehrende Reaktion habe ich meine Stücke nie sehen können, damit würde dem Abgewehrten einfach zuviel eingeräumt." (2)

In dieser Haltung liegt der Unterschied zum Aufstand der achtundsechziger Generation, der sich als vielstimmiger Protest artikulierte und an präzisen Feindbildern entzündete. Ganz anders die Individualisten der siebziger Jahre. Das Ankomponieren gegen eine andere Musik oder gegen die Institutionen, in denen diese Musik gemacht wird - eine solche dialektisch-intellektuelle Strategie war ihnen fremd. Sie waren vollauf damit beschäftigt, ihren eigenen Weg zu suchen, und zwar auf einem Feld, das bereits reich bestellt, aber nach allen Seiten offen war und wo es keine Wegweiser gab. 1999, aus der Distanz eines Vierteljahrhunderts, erinnert sich Wolfgang Rihm an seine ersten Gehversuche auf diesem Terrain:

"Natürlich habe ich die Musik geschrieben, die ich schreiben wollte, und habe Musik geliebt, die ich lieben konnte. Als das aber dann in eine Öffentlichkeit hinaus kam, das heißt, als diese Musik die ich geschrieben habe, aufgeführt wurde, kommentiert und wiedergegeben wurde, da habe ich bemerkt, dass es doch viel strenger gezogene Grenzen gibt als die, die sich mir, der ich ja die Dinge mehr erarbeitet, erlebt, erliebt, habe, gezeigt haben. Ich bin ja nicht in eine Welt hinein geboren, wo mir die Kriterien sofort mitgeteilt wurden, sondern ich stamme aus ganz »normalen« Verhältnissen, wo Musik ist, was aus dem Radio kommt, und ich habe mir da eine Liebe ermöglicht. Jetzt kamen die ersten Stücke, die ich geschrieben habe, und wurden als ästhetische Gegenposition interpretiert, als die ich sie beim Schreiben aber nicht empfunden hatte. Ich war selbstverständlich begeistert von der Musik die mir dann behauptenderweise als entgegengesetzte vorgehalten wurde. Es hieß dann, ich würde gegen die Avantgarde auftreten, ich würde mich wehren gegen dies und jenes, und es wurden dann Namen genannt: Stockhausen, Boulez, Nono. Das waren aber genau die Komponisten, die mich fasziniert haben. Ich habe eben nur nicht als junger Komponist diese Faszination in eine Gefolgschaft umgemünzt. Wobei ich unter Gefolgschaft verstehe, daß ein Orientieren und ein Imitieren Hand in Hand gehen mit einer stilistischen Reinheitsvorstellung. Dieses war mir nicht möglich. Aber ich habe jedenfalls meine Musik, die ich damals geschrieben habe, als diese Musik geschrieben, und nicht als Aussage gegen etwas." (3)

Mit Morphonie für großes Orchester und Solostreichquartett, einem magmatisch brodelnden Stück Musik, gab Wolfgang Rihm 1974 seinen Einstand in Donaueschingen. Es verschreckte nicht wenige der Konzertbesucher, die weder auf derartige Klangausbrüche noch auf die exzessive Länge von rund vierzig Minuten gefaßt waren. Die anarchischen Töne waren neu an einem Ort wie Donaueschingen, wo bisher die Rationalität des über Material und Form souverän disponierenden Geistes geherrscht hatte. Wolfgang Rihms Musik hatte Ähnlichkeit mit den Großformaten der "Jungen Wilden" in der Malerei: den mit heftiger Pinselbewegung gemalten Ölbildern eines Anselm Kiefer, den grob gehauenen Holzplastiken eines Baselitz. Wie diese dem Tafelbild wieder den Vorzug gaben vor der experimentellen Anordnung einer Installation oder einer Materialcollage, so hielt sich auch Rihm an den traditionellen Rahmen des Orchesterformats. Innerhalb dieses Rahmens ließ er freilich den entfesselten Energieströmen freien Lauf. Das Orchesterstück wurde zum Schauplatz von Kämpfen im musikalischen Material, die Form wurde aus dieser Auseinandersetzung heraus in jedem Moment neu geboren. Was der Komponist Ende der neunziger Jahre über sein Materialverständnis sagte, galt für ihn auch schon ein Vierteljahrhundert früher:

"Alle Klangformen sind, wenn man so will, Material. Damit wird der Materialbegriff eigentlich aufgelöst. Was entscheidet über das, was Material ist, ist die Wahl. Und Wahl und Material sind miteinander verknüpft.  Erst durch die Wahl wird etwas zum Material. Dadurch unterscheidet sich der eine vom andern Autor. Es gibt kein objektives Material. Ich bestehe für mein ganzes Leben immer darauf, daß es alles subjektive und individuelle Ausformungen und Setzungen sind, daß es nichts in irgendeiner Weise Objektives in der Kunst gibt. Und je älter ich werde, umso radikaler werde ich dessen auch gewiß, wobei das auch eine Gewißheit ist, die sich nie in eine Sicherheit ummünzen läßt. Denn sie führt letztlich dazu, daß man immer produktiver ratlos wird bei der Arbeit. Ich kann immer auf weniger zurückgreifen. Der berühmte Strohhalm, der fehlt. Ich greife also in die Luft. Aber das ist das schöne Bild, das glaube ich von Goethe stammt: Wenn der Künstler in die Luft greift oder ins Wasser, dann ballt es sich. (...)
Im Musikunterricht wird einem das ja immer so beigebracht: Da gibt es einen Schrank, und wenn man den öffnet, dann liegen da die Materialien. Und da gibt es einen Schrank, da liegen die Formen. Und dann geht die Tür auf und herein kommt ein Komponist, der hat ein Schild, da steht »Komponist« drauf. Und der betritt jetzt den Raum und geht erst mal an den Materialschrank, entnimmt ein Material, legt es auf den dafür vorbereiteten Tisch, dann holt er eine Form, stopft das Material in die Form hinein, und fertig ist das Werk. Dann kommt der nächste Komponist, der ist revolutionär, da steht darauf: »revolutionärer Komponist«. Der schafft ein Material ab. - Nicht, das sind dann so diese Vorstellungen. Also: Der eine hat dann die Tonalität abgeschafft, der andere hat die freie Tonalität abgeschafft, dann kam der nächste und hat die serielle Musik erfunden, dadurch wurde alles Vorige abgeschafft, dann kam der Heilige John und hat den Zufall erfunden und dadurch überhaupt alles abgeschafft. Das sind so rührende Bilder aus der Kaufladenwelt. Wenn man als Kind solche Kaufläden bekam, so vorgefertigte Förmchen, und dann gab's auch so Produkte, nachgebildet, und die waren mit Puffreis gefüllt, mit giftig angemaltem, aber lecker schmeckendem Puffreis. Wenn man das heute Kindern geben würde, käme man sofort ins Gefängnis, würde man wegen Kindervergiftung angeklagt. Aber so ist es, so wird es einem beigbracht. Aber gottseidank wurde es mir nicht so beigebracht. Ich hatte einen sehr guten Lehrer." (4)

Die Satire beschreibt ein wesentliches Moment des musikalischen Umbruchs der siebziger Jahre: Das neue, sich an keinerlei Systemdenken haltende Formbewußtsein, damit verbunden ein gewandelter Materialbegriff und, auf der Mentalitätsebene, das Aufbegehren gegen alle Arten von Denkprothesen, wie sie in der epigonalen Nachfolge des Serialismus vor allem in der Bundesrepublik das Komponieren bestimmten. Dieses Aufbegehren war jedoch nicht bloß ein voluntaristischer Akt einiger Jungkomponisten, die sich mit provozierendem Andersseinwollen gegen die etablierte Konkurrenz profilieren wollten, um ihrerseits ein warmes Plätzchen im Musikbetrieb zu erobern.

Daß mehr dahinter steckte, war den Beobachtern der Szene alsbald klar. 1978 reagierten auch die Darmstädter Ferienkurse auf den offenkundigen Klimawechsel mit thematischen und personellen Korrekturen. Die Berührungsangst war jedoch unübersehbar. Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus, nach Adornos Tod eine der theoretischen Autoritäten in Sachen neuer Musik in der Bundesrepublik, stellte in einem Grundsatzreferat die Frage, wie denn überhaupt eine akademische Disziplin mit diesen neuen, begrifflich schwer zu fassenden Phänomenen umgehen solle. Er rückte sie erst rhetorisch in den Dunstkreis von Zeitgeist und neuer Innerlichkeit, stellte sich aber dann dem Unvermeidlichen und begann, die theorieferne Materie in weitschweifenden Reflexionen begrifflich einzukreisen:

"Andererseits gerät man bei der Bemühung, sich selbst und anderen verständlich zu machen, wie die kompositorischen Tendenzen der letzten Jahre untereinander und mit außermusikalischen Vorgängen zusammenhängen, rasch in ein Gestrüpp von Schlagwörtern, die geradezu handgreiflich die Vorstellung eines Zeitgeistes, und zwar eines durch Regression geprägten Zeitgeistes suggerieren, der in der Musik und der Dichtung ebenso sein Wesen treibt wie im sozialen und politischen Verhalten. Gleichgültig ob von Einfachheit oder von Schönheit, von Sensibilität oder von Subjektivität die Rede ist: immer scheint es sich um eine Attitüde der Zurücknahme zu handeln, die sich zwar hinter dem Epitheton »neu« versteckt und als »neue Einfachheit« oder »neue Subjektivität« deklariert, aber durch solche terminologischen Vorkehrungen nicht verhehlen kann, daß die Enttäuschung durch das unmittelbar Vergangene zum Rückgriff auf das Vorvergangene trieb. Die neue Subjektivität, so argwöhnen deren Verächter, ist nichts als die schlecht verkleidete Innerlichkeit, und auch das Motiv ist das gleiche geblieben: politische Resignation, der Drang, sich vor der Welt zu verschließen." (5)

Bei seinem Eiertanz um die Frage, wie denn nun dieses Neue - oder vielleicht doch nur scheinbar Neue? - zu bewerten sei, fand Dahlhaus einen Halt bei einem Zitat aus Adornos 1970 posthum veröffentlichter Ästhetischer Theorie. Hellsichtig wie immer, sah Adorno dort die Möglichkeit voraus, daß "die vertikale Dimension" eines Tages erneut zur Diskussion stehen könnte, sprich: daß die totgesagte Tonalität unter geänderten historischen Bedingungen und in neuer Erscheinungsform wieder auferstehen könnte. Dies nicht als Restitution des klassischen Dreiklangwesens, sondern in der Form, daß "die Zusammenklänge abermals ausgehört werden und spezifische Valenz gewinnen." Adorno schob auch gleich eine Warnung nach:

"Die Möglichkeit reaktionären Mißbrauchs dabei ist freilich nicht zu verkennen; wiederentdeckte Harmonik, wie immer sie beschaffen sei, schickt sich zu harmonistischen Tendenzen." (6)

1976 wurde beim Festival Pro Musica Nova in Bremen erstmals Terry Riley's Anthem of Trinity gespielt. Wie sollte ein Stück wie dieses von einer ästhetischen Theorie eingeschätzt werden, die sich auf einen Kanon des Konsonanzverbots stützte und ihre Kriterien aus der Tradition der Wiener Schule und des Serialismus bezog? War das nun reaktionärer Mißbrauch der Tonalität oder einfach eine Art Umleitung des avantgardistischen Fortschrittszügleins auf eine Schiene, die nicht via Darmstadt, sondern via Indien ans ästhetische Ziel respektive zum Neue-Musik-Festival führte? Die Argumentationsschwierigkeiten einer von den Kriterien her festgefahrenen Theorie der Avantgarde zeigten sich bei dieser Art von Musik schlagartig.

Carl Dahlhaus' Berufung auf Adornos Warnung vor "harmonistischen Tendenzen" zeigt, wie verdächtig ihm und vielen anderen die neuen Entwicklungen der siebziger Jahre erschienen. Eine Aufwertung des Harmonischen setzte sich in ihren Augen zwangläufig dem Verdacht restaurativer Tendenzen aus. Dem hielten sie ihren ideologiekritisch-aufklärerischen Begriff von Kunst entgegen, an dem sich schon die Avantgarde der fünfziger und sechziger Jahre messen lassen mußte und an dem sie sich immer wieder in produktivem Widerspruch gerieben hatte. Die Neubewertung des Harmonischen hatte auch etwas mit der Frage nach dem Schönheitsbegriffs und mit einer Revision des Fortschrittsgedankens zu tun.

Die jungen Komponisten kümmerten sich freilich nicht um solche begrifflichen Differenzierungen und ideologiekritischen Vorbehalte; sie wollten Musik - ihre Musik - schreiben und nicht diskutieren, zumal sie fühlten, daß sie der theoretisch versierten älteren Generation in der Argumentation nicht standhalten konnten. Sie wehrten sich mit Tönen gegen Kritik, mit Ausdrucksemphase gegen rationale Argumente. Während Komponisten wie Stockhausen, Boulez oder Pousseur in den fünfziger Jahren ihre ästhetischen Neuerungen noch theoretisch brillant zu untermauern wußten, blieb die Generation der siebziger Jahre im begrifflichen Halbdunkel stecken. Gerade das aber gehörte zu der wohl nur halbbewußten Strategie, mit der sie sich gegen die technische und rhetorische Übermacht der Älteren durchsetzte. Deren Argumente liefen ins Leere. In seinem Darmstädter Referat seufzte Carl Dahlhaus:

"Begriffe, die aus Theorien stammen, kann man prüfen, indem man ihren Kontext, ihre Prämissen und ihre empirischen Grundlagen untersucht. Theorielosigkeit aber, die zur Isolierung von Vokabeln führt, zu einer Abspaltung, die das Aufspreizen zu Schlagwörtern begünstigt, verurteilt zu einer Ohnmacht gegenüber Modeformeln, die eine neue Sensibilität, eine neue Subjektivität oder eine neue Simplizität proklamieren. Daß hinter ihnen keine Theorie steht, über die man argumentierend reden kann, zwingt dazu, sie entweder einspruchslos zu akzeptieren oder sich abseits zu stellen. Und der Schaden, den die Schlagwörter anrichten, ist keineswegs gering (...) Es ist nicht einmal ausgeschlossen, daß sie auf die musikalische Praxis zurückwirken." (7)

So bedenkenswert diese Warnungen vor Theorielosigkeit und vor naiver Kunst-Werkelei sind, so klar zeigt sich darin noch etwas anderes: die Angst vor einer Machteinbuße. Eine ästhetischen Theorie, die bisher unangefochten einen bestimmenden Einfluß auf die Kompositionspraxis nicht nur in Deutschland gehabt hatte, fürchtete um den Verlust ihrer Definitionshoheit. Dieser Einfluß wurde ihr nun erfolgreich streitig gemacht durch eine Riege theoretisch unbeholfener und teilweise auch begriffsblinder Komponisten von nicht einmal dreißig Jahren, deren Waffe einzig ihre Musik war. Carl Dahlhaus witterte in dieser sonderbaren Negationshaltung eine Tendenz zur Aufhebung jenes Kanons von Verboten, der für die neue Musik bis anhin gültig gewesen war. Wie schätzt einer, der damals unmittelbar beteiligt war, diesen Konflikt heute ein? Wolfgang Rihm sieht, aus der Distanz von zwei Jahrzehnten, darin nur noch eine besondere Art von Rollenspiel um Gehorsam und Renitenz.

"Ja dazu muß man erstens wissen: wer hat Verbote aufgestellt, für wen, und wer hat sie akzeptiert? Es gehören ja immer mehrere dazu. Du kannst dich vor mich hinstellen und Verbote herunterleiern, dann nicke ich freundlich und mache doch, was ich will. Jedes Kind handelt nicht immer den Verboten entsprechend, ist ja klar. Also: Dahinter steht natürlich auch noch die Vorstellung einer strafenden väterlichen oder mütterlichen Kunstwelt. Wer gegen das Verbot verstößt, wird mit Gefängnis nicht unter soundsoviel Jahren bestraft, sprich Mißachtung, sprich wirtschaftlichem Mißerfolg. Also die Sanktionen, mit denen wird gefuchtelt: Wer doppelte Quinten verwendet... (Einwurf M.N.: wird zwei Wochen in Darmstadt interniert) ... zum Beispiel, könnte ja sein. Oder wer zwei Wochen in Darmstadt verbringt, wird in einen Qintenzirkel gespannt. Verbote lassen sich durch ständig neu errichtete andere Verbote überspringen. Verbote sind dazu da, mit andern Verboten beantwortet zu werden. Irgendwann löst man sich mal von diesem Pingpongspiel der Verbotswilligen und auch der Verbots-akzeptierens-willigen - es sind ja Reaktionsmuster, man kennt es schon aus dem Kindergarten. Die Kinder, die das Verbot lieben, die sich gern beugen, die werden von der Tante besonders geliebt. Die bekommen ein Bonbon. Aber haben dann schlechtere Zähne. Beissen weniger." (8) 

Es gab Komponisten, die zeigten tüchtig ihre Zähne, und es gab solche, die sich sanft verweigerten, um dem übermächtigen Theorieanspruch der Avantgarde zu entkommen. Manche suchten ihre Zuflucht bei Konzeptionen, die ihrer Meinung nach eine neue Unmittelbarkeit musikalischer Erfahrung ermöglichten. So etwa Ulrich Stranz, Schüler von Günter Bialas in München. Der Abstraktion des postseriellen Denkens begegnete er mit einem Rekurs auf die physiologischen Voraussetzungen des Hörens und die Gegebenheiten der Naturtonreihe - eine Auffassung, die an Hindemiths Unterweisung im Tonsatz erinnert. Vor dem Publikum erläuterte er 1981 in München seine harmonisch-melodische Konzeption anhand seines ersten Streichquartetts:

"Die große Sekunde ist nun das einfachste Schrittintervall, man könnte sagen: das melodische Urintervall, und das sind Zusammenhänge, in denen sich physikalisch-akustisch Vorgegebenes und menschliches Gestalten und Erfassen berühren, und das sind auch Zusammenhänge, die schon seit Jahrtausenden bekannt sind. Es ist ganz egal, ob man nach Griechenland oder nach Indien blickt. Und diese Zusammenhänge sind nichtsdestoweniger auch heute noch wirksam. Ich möchte sagen, die Menschen haben sich vielleicht verändert, aber solche Dinge bleiben sich treu und sich gleich. Die große None ist nun das Intervall, das im ersten Satz - um nun die Beziehung zum Naturhaften aufzuzeigen - eine große Rolle spielt. Der Zusammenklang g-a mit ihrem Charakter einer eingefrorenen Bewegung bildet den Hintergrund für ein sparsames musikalisches Geschehen in diesem ersten Satz.
Mein Ausgangspunkt ist nun nicht ein völlig antiromantischer von vorneherein gewesen. Aber er war doch gleichzeitig auch ein intuitiv-analytischer, was sagen will, dass ich versucht habe, herauszuhören und zu -fühlen, was an Ausdrucks- und Entwicklungspotential, auch an Assoziazionspotenzial ganz allgemein, an Psychologisierbarem drinsteckt in diesem Urstoff, der mich fasziniert hat, eben an diesem Reservoir des Teiltonspektrums und der Primärintervalle mit ihren Skalen und tonalitätbildenden Energie und Kraft." (9)

In einem Werk wie den 1980 entstandenen Szenen für Orchester von Ulrich Stranz ist die Sehnsucht nach Einfachheit des Ausdrucks, neuer Schönheit und Kommunikationsfähigkeit unüberhörbar. Alles, was vorher zu den kompositorischen Tugenden gehörte - Komplexität, Brüchigkeit, strukturelle Stimmigkeit und wie die schönen Begriffe alle hießen - wird hier souverän ignoriert. an ihre Stelle tritt die Schlichtheit der musikalischen Gedanken und ihrer Formulierung.

Hinter solcher Zurücknahme von technischen Mitteln und struktureller Entfaltung ganz allgemein steckte freilich mehr als eine bloße innerästhetische Absetzbewegung von einer als veraltet und theorielastig empfundenen Kompositionspraxis. Es manifestierte sich darin auch mehr oder weniger bewußt ein Reflex auf gesamtgesellschaftliche Vorgänge, auf das, was Carl Dahlhaus wohl mit dem ihm sichtlich unbehaglichen Begriff des "Zeitgeistes" meinte.

Erinnern wir uns: In den siebziger Jahren machte sich quer durch die Gesellschaft ein Umdenken, ein Stimmungsumschwung bemerkbar. Der Stellenwert der Technik stand längst nicht nur in der neuen Musik zur Debatte. Der Glaube an ihre alleinseligmachende Rolle wurde vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet nachhaltig erschüttert. 1972 erschien die Schrift des Club of Rome Grenzen des Wachstums, und im darauffolgenden Jahr gab es als Folge von Nahostkrieg und arabischem Ölembargo sogenannte autofreie Sonntage, an denen sich die Bundesbürger beim Spaziergang über die leeren Autobahnen eine Vorstellung von einer weltweiten Energiekrise machen konnten. Der bislang wie eine Naturtatsache hingenommene technische Fortschritt entpuppte sich über Nacht als dubiose Größe, auf die keinerlei mehr Verlaß war. Das Gefühl des "Immer höher, immer schneller, immer besser", das die Aufbauphase nach dem 2. Weltkrieg, die flotten fünfziger und sechziger Jahre geprägt hatte, wich einem technischen Katzenjammer. Die Probleme der Umweltzerstörung rückten ins Bewußtsein, die ökologischen Bewegungen entstanden. Welcher junge Künstler hätte auf solche Vorgänge nicht sensibel reagiert? Aus den damaligen künstlerischen Äußerungen ist eine tiefe Verunsicherung ablesbar, die sich nicht selten zu diffusen Angstgefühlen verdichtete.

Zu seiner Ersten Sinfonie, die 1978 in München uraufgeführt wurde, sagte von Hans-Jürgen von Bose, seine Hauptidee sei gewesen, eine Katastrophe auszudrücken:

"Das Stück geht zurück auf einen Traum, den ich hatte, und zwar war das ein Katastrophentraum. Ich hatte das Gefühl, ich befinde mich plötzlich als letzter überlebender Mensch auf einer zerstörten Welt, und wachte auf und hatte direkt den Gedanken: Das muß ich in Musik umsetzen." (10)

1978, im selben Jahr, als Carl Dahlhaus seinen Vortrag in Darmstadt hielt, war auch der damals 25-jährige Hans-Jürgen von Bose als Dozent zu den Ferienkursen eingeladen. In seinem Referat versuchte er die Situation, in der sich ein junger Komponist damals befand, zu beschreiben:

"Es ist meine Überzeugung, daß er wirklich allein gelassen ist. Allein gelassen in dem Sinne, daß er sich nicht auf die Rückendeckung eines allgemein gefühlten, akzeptierten und verbindlichen Weltbildes, eines kollektiven Weltbildes, verlassen und aus ihm heraus arbeiten kann. (...) Der Fortschrittglaube ist schwer erschüttert, an eine materialtechnische Erweiterung ist kaum noch zu denken, und ein möglicherweise neues, allgemeingültiges Weltbild nicht in Sicht. Und doch haben wir vielleicht - wie in meinem Falle - das Glück, daß einige Wenige - für mich sind es Freunde wie Detlev Müller-Siemens, Wolfgang von Schweinitz, Hans-Christian von Dadelsen und Wolfgang Rihm - dieses Alleingelassensein ebenso realisieren, und daß jeder auf seine Weise versucht, in seiner Sprache dieses Grundgefühl umzusetzen und für sich seine Konsequenzen zu ziehen." (11)

Was von Bose in seinem Darmstädter Text 1978 ansprach - Werteverlust und das Fehlen eines allgemein verbindlichen Weltbildes -, ist nichts anderes als die Situation der Moderne, formuliert aus der Perspektive seiner eigenen Zeit. Seit Baudelaire und Nietzsche gehört das zur Grundbefindlichkeit des modernen Künstlers, ist also nichts Neues. Einen besonderen Akzent erhalten jedoch von Boses Ausführungen, wo er davon spricht, daß die Erkenntnis des Alleinseins zu einer Art Zusammengehörigkeitsgefühl von Gleichgestimmten führe, und daß das Verbindende der Wunsch nach einer neuen Schönheit sei:

"Hier haben wir es mit einem schönen Paradoxon zu tun: die Erkenntnis dieses Alleinseins schafft beinahe (...) eine Art Gruppe. Verbindend ist die Sehnsucht nach einer verlorengegangenen Schönheit und Inhaltlichkeit. Weiterhin die Ablehnung eines erheuchelten Fortschrittsglaubens, und das Bedürfnis, der Situation möglichst realistisch gegenüberzutreten. Weiterhin der Glaube an Schönheit und Sinnlichkeit als Überträgersubstanz einer neu zu suchenden, für jeden neu und individuell zu formulierenden Inhaltlichkeit." (12)

Sollte hier das Gefühl des Verlorenseins in einer kalten Welt durch eine romantische Sehnsucht nach Geborgenheit kompensiert werden? Zweifellos sind, nicht nur bei von Bose, beide Aspekte in den Werken und im Denken der damaligen jungen Komponisten präsent. Auch Manfred Trojahns Musik schwankte zwischen Existenzangst und dem Bedürfnis nach menschlicher Nähe. Über sein 1983 uraufgeführtes, siebensätziges und rund eine Stunde dauerndes Streichquartett Nr. 2, dem er Texte von Georg Trakl zugrundelegte, sagte er:

"Trakl ist ja ein Dichter, dessen Ängste, die letztlich zu seinem Selbstmord führten, mit den uns heute so geläufigen Befürchtungen sehr eng zusammenstehen: Die Kriegsangst - Trakl zerbrach an der Erfahrung des Kriegs als Sanitäter -, die zerstörerische Einwirkung der Gesellschaft auf die Sensibilität des Einzelnen." (13)

Sein Lebensgefühl brachte damals auch Wolfgang Rihm zur Sprache, und zwar in einer Radiosendung für den Süddeutschen Rundfunk unter dem Titel Bilanz der siebziger Jahre. (14) Das Manuskript schrieb er am letzten Tag des Jahrzehnts und gab ihm den Titel Monolog am am 31. XII. 1979. Ein Auszug aus der bemerkenswerten öffentlichen Selbstreflexion des 27-Jährigen:

"Wohlfühlen ist ein anderer Zustand. Die Atmosphäre ist voller Gewalt. Alles zittert von verhaltener oder ertragener Gewalttätigkeit. Das ist es, was ich spüre; auch schon 1974, als ich diese Musik aufgeschrieben habe..."

Mit genauen Worten und einer Musik, die das Gesagte mit ihren Mitteln noch verdeutlicht, wird hier zeitgeschichtlicher und biographischer Moment in eins gesetzt. Wolfgang Rihm dazu zwanzig Jahre später, am 30. Dezember 1999:

"Die Genauigkeit muß man aber auch erklären, denn mit der Gewalt ist das damals sehr virulente Terroristische im politischen Alltag gemeint, was mich sehr verunsichert, sehr berührt hat. - Die Äußerung ist natürlich typischerweise die eines Endzwanzigers, der seinen Platz finden muß, ist klar. Dem ständig gesagt wurde: Das ist zuviel, das ist zuwenig. Das wird ja heute auch noch gemacht, nur: das gleitet an mir ab. Damals mußte ich mich dagegen wehren. Heute sage ich: aha! und gehe weiter. Das ist eine biographische Situation. Ich konnte es damals nicht so nehmen, wie ich es heute nehmen kann, wenn Kritik sich in der Form äußert. Damals ging das viel mehr an meine Lebenssubstanz." (15)

Die Ursachen für dieses Gefühl des Fremdseins in der Zeit diagnostizierte Wolfgang Rihm 1979 mit aller Schärfe:

"Was spüre ich noch? Das Muffige, Spießige, das sich einnistet bei so vielen ins Trockene gebrachten Schäfchen. Als Lebensform: das Mediokre; immer schon eingeebnet, nicht zu laut, nicht zu leis; je nachdem: abgesichert und genehm. Wem? für wen? Ich meine eben nicht nur die Musik. Aber auch dort sieht alles so adrett aus; voller »Junger Generation.« (...) Die Luft ist zu mild; die Ausgewogenheit steht allen bis zum Hals, sie zerstört das Gleichgewicht. Kann ich machen, was ich will? Es sieht so aus - und zwar so, daß selbst das, was ich nicht will, aussieht, als ob ich es wollte. Nichts schneidet, nichts schmerzt, nichts dringt zurück, wenn ich in Watte schreie. Aber, das ist nur momentanes Durchhängen! - wie wenn man immer in Luft greift. Lange Zeit ohne Widerstand - und du produzierst den Widerstand selbst. Gegen dich selbst. Nie ging es so gut." (16)

Anmerkungen

1.  Kommentar im Begleittext der LP Dt. Hamonia Mundi, DMR 1027  (zurück)
2.  Bayerischer Rundfunk 1978 (zurück)
3.  Wolfgang Rihm im Gespräch mit Max Nyffeler, aufgezeichnet am 30.12.1999)  (zurück)
4.  a.a.O.  (zurück)
5.  in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Bd.17, hrsg. E.Thomas, Mainz 1978 (zurück)
6.  zit. nach C. Dahlhaus, a.a.O. (zurück)
7.  a.a.O. (zurück)
8.  Wolfgang Rihm, a.a.O. (zurück)
9.  Bayerischer Rundfunk 1981 (zurück)
10. H.-J. von Bose im Gespräch mit Ulrich Dibelius, Bayerischer Rundfunk 1978 (zurück)
11. in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Mainz 1978 (zurück)
12. a.a.O. (zurück)
13. Einführung zum Streichquartett Nr.2, Bayerischer Rundfunk 1983) (zurück)
14. zit. nach: Wolfgang Rihm, Ausgesprochen. Schriften und Gespräche, Bd. 1, Winterthur 1997, S. 126 (zurück)
15. Gespräch mit Max Nyffeler, a.a.O. (zurück)
16. Wolfgang Rihm, Ausgesprochen, a.a.O. (zurück)

Nach dem Manuskript der Sendung Neue Subjektivität I in der Reihe Hörgeschichte der Musik des 20. Jahrhunderts ("Vom Innen und Außen der Klänge"), SWR2, 31.1.2000

Neue Subjektivität II
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