Franz Schubert: Klaviersonate A-dur, D. 959Ein Interpretationvergleich1. 4. Satz, Seitensatz: 1.50-4.15
Über Schuberts Umgang mit der Zeit ist schon viel geschrieben und nachgedacht worden, vor allem von Komponisten. Robert Schumann sprach im Hinblick auf die große C-dur-Symphonie von den 'himmlischen Längen', Gustav Mahler meinte, alles, was nach Wiederholung aussah, durch Striche in der Partitur ausmerzen zu müssen. Heutige Komponisten sind von Schuberts Strukturierung Zeit immer wieder fasziniert und stellen, wie es etwa Dieter Schnebel Anfang der siebziger Jahre getan hat, gründliche Untersuchungen darüber an. Die Gestaltung der musikalischen Zeit gehört zum absolut Unverwechselbaren an Schuberts Musik und gibt bis heute allen, die sich damit beschäftigen - Theoretiker, Komponisten und Interpreten - immer wieder Rätsel auf. Analytisch läßt sich das schwer greifen, philosophisch läuft man Gefahr, ins Allgemeine abzugleiten. Am besten scheinen es da noch die Interpreten zu haben, die das begrifflich schwer Faßbare nicht im Medium der Sprache reflektieren müssen, sondern in der Lage sind, es unmittelbar nachschöpferisch im Medium des Klangs zu formen. Das ist denn auch eine der großen Herausforderungen beim Spielen von Schuberts Musik, und nicht immer sind die Resultate überzeugend. So sind wir denn, liebe Hörerinnen und Hörer, bei unserem Interpretationsvergleich mit Franz Schuberts später Sonate in A-dur gleich in medias res gesprungen: in eine dieser Stellen, denen man auch in diesem Werk immer wieder begegnen kann. Es war das Seitenthema aus dem mit Allegretto überschriebenen Schlußrondo. Ein schönes Beispiel für Schuberts Art, die Musik in einer vagierenden Bewegung, ohne bestimmtes Ziel vor Augen, sich entfalten zu lassen. Es eröffnen sich immer wieder neue, überraschende Ausblicke auf das Thema, das hier wie eine Landschaft mit unendlich vielen Horizonten ausgebreitet wird. Ein musikalischer Spaziergang ganz im Sinne Robert Walsers, dazu gemacht, Augen und Ohren für die Schönheiten der Welt zu öffnen und zugleich dem Wanderer deren Vergänglichkeit in Erinnerung zu rufen. Der Interpret war András Schiff. Mit seinem in Klang und Artikulation reich abgestuften Spiel bringt er die Perspektivenvielfalt und Reflexionstiefe dieser Musik überzeugend zur Darstellung. Später werden wir auf den vierten Satz nochmals ausführlicher zu sprechen kommen, und wir wenden uns jetzt erst einmal dem Kopfsatz zu. 2. 1. Satz, Anfang
Mit markanten ganztaktigen Akkorden, die durch die Oktavsprünge
in der linken Hand rhythmische Kontur erhalten, wird die Sonate eröffnet;
das Kopfthema war zum Schluß, bei den ersten Takten der wiederholten
Exposition, gerade nochmals zu hören. Die Aufnahme entstand 1978,
Interpret ist der 74-jährige Claudio Arrau. Er spielt mit gelassener,
erzählender Geste. Die dunklen Töne, an denen diese Musik reich
ist, färbt er ein wenig wehmütig ein, ohne in Senitmentalitäten
abzugleiten. Es ist die souveräne Sicht eines reifen Interpreten auf
ein großes Werk der Vergangenheit.
In diesen Klavierkompositionen trat Schubert endgültig aus dem Schatten Beethovens heraus, der ihm sein Leben lang zu schaffen gemacht hatte. Im Umgang mit der klassischen Sonatenform findet er zu ganz persönlichen Lösungen. Form, eine Ordnungsinstanz ersten Ranges in der Gesellschaft wie in der Institution Kunst, Form wird von ihm klaglos akzeptiert, und zwar in einer so demonstrativen Weise, daß es schon fast provokativ wirkt. Denn er behandelt sie nur als Hülse und ignoriert ihre Implikationen. Eine Entwicklungsdynamik, die noch Beethovens auf Veränderung zielende, aktiv gestaltende Haltung kennzeichnete, interessiert ihn nicht mehr. Nichts ist Schubert fremder als das 'Weiter! Weiter!', wie es der Fortschrittsbegriff des beginnenden Industriezeitalters propagiert. Bewegung ist bei ihm entweder die suchende, vagierende Bewegung wie im eingangs gehörten Seitenthema, oder das schicksalshafte Getriebensein der Winterreise. Oft ist ihm das Verweilen überhaupt wichtiger als das Vorwärtseilen, und bei schönen Momenten bleibt er einfach stehen und hört zu, wie sich der Klang entfaltet. Es ist eine im ökonomischen Sinn untaugliche künstlerische Existenz, die sich in Schuberts Musik äußert. Sein Umgang mit Material und Form verrät keinerlei Ehrgeiz zu einer Leistung, die ihm erlauben würde, in der Schlußbilanz auftrumpfend den Mehrwert seiner motivisch-thematischen Arbeit auszuweisen. Wer bei Schubert nach dem sogenannten 'ökonomischen Umgang' mit dem Material sucht, sucht am falschen Ort. Wer hingegen die verschwiegenen Töne, die Stille hinter dem Klang und die heimliche Kraft eines sich seiner Schwäche bewußten Subjekts sucht, der wird bei Schubert fündig. An solchen Gesichtspunkten hat sich die Interpretation letztlich zu messen, über alle Fragen der Textgenauigkeit und der technischen und formal-gestalterischen Kompetenz hinaus. Konkret heißt das nicht zuletzt: Ein Interpret muß in der Lage zu sein, sich zurückzunehmen und die Musik 'sich ereignen lassen', wie das Alfred Brendel 1976 in seinen Bemerkungen zu Schuberts letzten Klaviersonaten treffend formulierte. Mit Klaviertitanik kommt man ihr sowenig bei wie mit willkürlichen Maßnahmen aller Art, um sie 'interessant' zu machen. Die Seitensätze liefern oft einen idealen Lackmustest; an ihrer vertrackten Schlichtheit ist ähnlich wie bei Mozart, schon manche Prominenz kläglich gescheitert. 3. 1. Satz, Ausschnitt: 1.25-2.26''
Das war Murray Perahia mit dem Seitenthema aus dem Kopfsatz. Schlank, ohne zu zögern und mit subtiler Zurücknahme des Klangvolumens spielt er die anmutig gewundene Achtelkette, die zum Seitenthema überleitet. Das schwebende Thema mit seinen hingetupften Akkordwiederholungen ist mit Leichtigkeit und Poesie gestaltet. Nun ein Interpret der gleichen Generation wie Arrau, nämlich Wilhelm Kempff. Auch er: schlank, locker hineingleitend in den Seitensatz. Er spielt den Satz zügiger und mit hellerem Klangcharakter als Arrau. Auf die wiederholten Viertel im zweiten Teil des Seitenthemas macht er allerdings etwas unschubertisch ein leichtes Crescendo, was die Phrase expressiv auflädt. 4. 1. Satz, Ausschnitt: 1.19-2.16
Wilhelm Kempff in einer Aufnahme von 1968. Er war damals 73 Jahre alt. Nach Kempff nun Alfred Brendels mit seiner Version, die er ein paar Jahre später, 1972, veröffentlichte. 5. 1. Satz, Ausschnitt: 1.20 - ca. 2.45
Welche Überraschung: Im Gegensatz zu allen bisher gehörten Interpreten verlangsamt Alfred Brendel beim Eintritt des Seitensatzes das Tempo derart, daß wir uns plötzlich in einem ganz anderen Stück wähnen. Er gleitet in ein Andante hinein, den Klang führt er gekonnt fast bis ans Verstummen. Er nähert sich einem Grenzbereich des Ausdrucks, und der flüchtige poetische Duft, der die andern Versionen mit Abstufungen auszeichnet, weicht hier einem entfärbten dreifachen Piano, das wie eine bleiche Vision erscheint. Müssen Schuberts Seitensätze immer poetisch sein im Sinn eines frühromantischen Lebensgefühls? Brendel ist offensichtlich nicht dieser Meinung. Das gehört zum Konzept seiner Interpretation. Das Abrutschen in die Instabilität, eine Art Vorgang des Ausblutens, Nachlassens, wird von ihm gleich in den Anfangstakten beispielhaft vorgeführt. 6. 1. Satz, Anfang
Der letzte Takt des Anfangsthemas wird hier in Tempo und Lautstärke
so zurückgenommen, daß es wie ein Abgleiten wirkt. Die affirmative
Gestik der markigen Akkorde wird sogleich in Frage gestellt und das heimliche
Gegenthema von Brendels Interpretation rückt in den Vordergrund: Die
Glättung des Affekts. Interessanterweise fehlt dieses Abgleiten in
der Reprise; dort wird das Forte durchgehalten. Doch hier in den ersten
Takten haben wir einen Anfang, der eigentlich nirgendwo hinführt -
eine große Geste, die sogleich resignativ zurückgenommen wird.
Damit scheint Brendel seine These belegen zu wollen, daß Schubert
nicht an Beethoven gemessen werden kann, und Belege dieser Art folgen noch
viele. Die Architektur des Satzes stellt bei ihm nicht mehr eine kohärente
Konstruktion dar, sondern eine Folge von Formelementen, die nicht zuletzt
durch extreme Tempomodifikationen voneinander unterschieden sind. In dieser
bewußt antiklassischen Interpretation wird Uneinheitlichkeit zur
Tugend erklärt. Hier die ganze Exposition in der Interpretation von
Alfred Brendel.
Alfred Brendels Interpretation von 1972 erscheint aus heutiger Sicht in der Diskussion der siebziger Jahre befangen zu sein, als es darum ging, dem Schubert-Cliché von Dreimäderlhaus auf der einen Seite und dem Nicht-Ganz-Beethoven auf der andern Seite entgegenzuwirken und ein neues Bild vom Komponisten zu entwerfen, das eigenständige Züge aufweisen sollte. Doch hat Brendel in dieser guten Absicht dem Werk wohl etwas zu viel an interpretatorischem Kalkül übergestülpt. Dieser Meinung war er später offenbar auch, denn in seiner Aufnahme von 1987 sind diese Freiheiten weitgehend verschwunden. 8. 1. Satz, Schluß ab 11.36''
Christian Zacharias mit dem Schluß des ersten Satzes der Sonate
in A-dur von Franz Schubert.
9. 1. Satz, Anfang bis Beginn Durchführung
Welche Frische spricht aus dieser Aufnahme mit Eduard Erdmann. Die
ungeheure Vitalität verdankt sich in erster Linie einem energischen
rhythmischen Impuls, und der unerhörten Anschlagskunst, die bei einem
Minimum an Pedal ein Maximum an Ausdruckswerten aus dem Notentext herausholt
- einem Notentext, den Erdmann übrigens mit skrupulöser Sorgfalt
beachtete. Klare Struktur und poetische Leichtigkeit schließen sich
bei ihm keineswegs aus, und das gerüttelt Maß an falschen Noten
überhört man bei dieser geistsprühenden Interpretation gern.
Und nun der andere dieser beiden Pianisten, die gewissermaßen das pianistische Urgestein in Sachen moderner Schubert-Interpration bilden: Artur Schnabel. Er ist zweifellos der Berühmtere und hat auch viel mehr Plattenaufnahmen gemacht als Erdmann. Manche seiner alten 78er-Aufnahmen sind inzwischen in digital gereinigter Form auf CD erschienen, unter anderem auch Schuberts A-dur-Sonate. Hier ein längerer Ausschnitt aus dem ersten Satz mit Artur Schnabel aus dem Jahr 1937; wir beginnen kurz vor Beginn der Durchführung. 10. 1. Satz, ab 3.30
Artur Schnabel mit dem ersten Satz der Sonate A-dur D. 959. Es ist von allen vorliegenden Fassungen mit elf Minuten zehn Sekunden die zweitschnellste. Noch schneller ist nur Erdmann, der fast eine Minute früher zuende ist. Schnabels Spiel zeichnet sich aus durch Brillanz, eine stringente Gestaltung der formalen Abläufe und eine Tendenz, bei Übergängen und Höhepunkten eher zu beschleunigen und so Pathos zu vermeiden; diese Tempoauffassung teilt er übrigens mit Erdmann. Das Seitenthema gestaltet er überaus expressiv - etwas, was allerdings Erdmann nie gemacht hätte und auch heute kaum noch gemacht wird - wobei er das Tempo zurücknimmt, jedoch längst nicht so stark wie fünfunddreißig Jahre später Alfred Brendel. In Schnabels Interpretation wird der große Beethoven-Interpret der ersten Jahrhunderthälfte hörbar. Sie beleuchtet Schubert sozusagen von der historischen Rückseite, von Beethoven her, und diese Nachbarschaft schadet Schubert überhaupt nicht. Er war eben nicht nur das Schwammerl und der Gemütsmensch, sondern auch ein Baumeister großer instrumentaler Formen. Damit führte er die Tradition der Klassik weiter, auch wenn diese Formen anderen inneren Gesetzmäßigkeiten gehorchen. Wir haben bisher acht verschiedene Pianisten gehört: András Schiff, Claudio Arrau, Murray Perahia, Wilhelm Kempff, Alfred Brendel, Christian Zacharias, Eduard Erdmann und Artur Schnabel. Bei dem nun folgenden zweiten Satz werden wir noch weiteren Interpreten begegnen. Doch zu Beginn gleich nochmals Eduard Erdmann. Seine Spiel glänzt durch die Kunst des Weglassens, der Reduktion, der Schlichtheit. Das Pedal benutzt er nicht flächig, sondern nur punktuell, um einzelnen Akkorden Glanz zu verleihen und Legatoprozesse zu unterstützen. Die filigrane Linie wird dadurch nicht beeinträchtigt, die Baßnoten zu Beginn erhalten den nötigen Pizzicato-Charakter. Nur mit dem Mittel des Anschlags modelliert Erdmann den Klang im Pianissimobereich. Er setzt damit Maßstäbe, wie mit der Stille umzugehen ist, die überall hinter Schuberts Klang hervorschaut. Die Seufzer-Akzente in der Melodie sind das einzige, was er emphatisch hervorhebt. Eingebettet in diese Klangumgebung wirken die Eruptionen des Mittelteils, die diesen Satz zu einem Bild dessen machen, was Heine mit dem 'Riß durch die Welt' meinte, umso erschreckender. 11. 2. Satz, bis Reprise
Eduard Erdmann mit dem 'Andantino' überschriebenen zweiten Satz aus Schuberts Sonate in A-dur. Auf zwei Dinge soll noch hingewiesen werden: Im Mittelteil verzichtet er im Gegensatz zu vielen andern auf eine Beschleunigung; er setzt weniger auf Dramatik als auf eine plastische Darstellung dieser gewaltigen Architektur, die dadurch in ihrer erhabenen Größe umso niederschmetternder erscheint. Und das zweite betrifft ein kleines, aber für Erdmanns Schubert-Spiel sehr typisches Detail: Die wenigen Stellen, wo sich die klagende Melodie zu einer kurzen Sechzehntelfolge verdichtet, bläht er nicht expressiv auf, sondern er gleitet im Gegenteil mit einem leicht flüssigeren Tempo darüber hinweg. 12. 2. Satz, T. 5-8 und T. 23-26
In diesem zweiten Satz stellt sich die Frage der Pedalisierung. Die Melodie wird von der linken Hand mit einer gleichmäßigen Achtelfigur begleitet; die jeweils erste Note im Takt gibt das Fundament für die Harmonik ab. Sie liegt in der Baßregion und kann nicht gehalten werden, da die linke Hand sich für die folgenden zwei Achtel nach oben bewegen muß. Schubert versah diesen Baßton mit einem Punkt. Also: ein Pizzicato-Effekt wie vom Cello in einem Streichquartett. 13. 2. Satz, Anfang T. 1-8
Erdmann macht diesen Pizzicato-Effekt. Er wechselt das Pedal nach dem ersten Achtel, wodurch der Klang transparent bleibt und die Oberstimme nicht von einem flächigen Pedalklang eingehüllt wird. Die meisten Pianisten sind der Meinung, 'das klinge nicht', wie die Redensart heißt, und halten das Pedal länger; bestenfalls lassen sie es ein wenig vibrieren, um die unweigerlich entstehende Klangwolke auszudünnen. András Schiff zum Beispiel, der sonst mit dem Pedal sehr subtil umzugehen weiß, entscheidet sich hier nicht für Transparenz, sondern für Klang, wobei er aber im dritten Takt wegen der kleinen Figuration das Pedal wohlweislich schon nach dem ersten Achtel wechselt. 14. 2. Satz Anfang T. 1-8
Doch wie überall gibt es auch hier keine einfachen Wahrheiten. Durch Pedalgebrauch können auch ganz neue Gesichtspunkte entstehen. Wilhelm Kempff pedalisiert ausgiebig und häufig taktweise. Durch sein ebenmäßiges, fast metronomisch genaues Spiel erhalten die Bässe etwas Glockenähnliches und das Zeitmaß bekommt einen leichten alla-breve-Charakter. Auf Dauer wirkt das ausgesprochen suggestiv, weshalb hier ein längerer Ausschnitt, nämlich der ganze A-Teil, gespielt werden soll. 15. 2. Satz, Anfang
Noch einige Beispiele für den eruptiven Mittelteil dieses Satzes und vor allem für die Rückkehr zur Reprise. Hier ist die Nahtstelle, an der sich zeigt, wie ein Interpret zwischen den Extremen des Ausdrucks vermitteln kann, wie er das eigentlich Inkommensurable zusammenzubringen versteht. Schubert hat den Übergang äußerst sorgfältig gestaltet: Das Nachdröhnen der brutalen Akkorde wird langsam abgelöst durch rezitativische Elemente, aus denen schließlich eine besänftigende Kantilene herauswächst, die die Rückkehr des Andantino-Themas vorbereitet. Zuerst die Version von Artur Schnabel. 16. 2. Satz ab Mittelteil bis Reprise, 2.38-6.19''
Artur Schnabel baut sein großes Klanggemälde in mehreren Anläufen auf und schöpft immer wieder Atem durch kleine Zäsuren. Die Rückführung erfolgt in sehr freier Weise mit einer elastischen Zeitgestaltung. Wo die Kantilene erreicht wird und die Bekommenheit weicht, ist es einem richtig zum Aufatmen zumute. Eine sehr suggestive Darstellung, die das Disparate in einen riesigen Bogen zwingt. In ihrer Einmaligkeit ist sie unnachahmlich. Ihre Überzeugungskraft ist an die Persönlichkeit des Interpreten gebunden, vergleichbar dem Scarlatti-Spiel von Wladimir Horowitz, vor dessen Nachahmung auch nur herzlich abgeraten werden kann. Das nächste Beispiel stammt von einem Pianisten, der hier nun erstmals vorgestellt wird: Stephen Kovacevich. Seine Aufnahme wurde 1995 von der Firma EMI veröffentlicht. Kovacevitch lebt in England und wurde in den sechziger Jahren als Duopartner der Cellistin Jacqueline du Pré bekannt. Seinen Schubert spielt er mit der Geste eines Pianisten für große Säle und geizt nicht mit Klangentfaltung; dazu kommt eine leider allzu hallige Aufnahmeakustik. Doch im zweiten Satz der A-dur-Sonate versteht sich Kovacevich zurückzunehmen. Es gelingt ihm, einen schwebenden, verinnerlichten Klang zu erzeugen. Hier folgen nun Mittelteil und Reprise des 2. Satzes mit Stephen Kovacevich. Der Anfang ist in ein klangliches Sfumato gehüllt, mit dem man sich nicht unbedingt anfreunden muß. 17. 2. Satz, Mittelteil und Reprise, ab 2.17''
Bemerkenswerte Schlußtakte in dieser Interpretation von Stephen Kovacevich. Die düsteren Baßakkorde hallen wie Totenglocken. Den Ausbruch des Mittelteils gestaltet der Interpret als einen großen, dramatischen Wurf mit weiter Gebärde, und er hat die Energiereserven, die Spannung durchzuhalten. Bei einem klanglich so extremen Satz wie dem zweiten ist man natürlich neugierig, wie er auf einem historischen Instrument klingt. Bei Virgin Classics veröffentlichte Melvyn Tan eine Aufnahme mit einem Hammerflügel, der einem Instrument aus der Schubertzeit nachgebaut wurde. Der Hammerflügel hat gegenüber dem modernen Konzertflügel einen schärferen Anschlag, wodurch die Linien härter gezeichnet sind und die Pedaleffekte weniger anschlagsverschluckend herauskommen. Hier Melvyn Tan mit dem langsamen Satz, ab Beginn des Mitteilteils. 18. 2. Satz, ab Mittelteil, bei 2.00''
Melvyn Tan am Hammerflügel in einer Aufnahme von 1988. Das Klangbild
unterscheidet sich wesentlich von dem eines modernen Flügels. Frappierend
ist, wie im Mittelteil bei den rasenden Läufen die Bewegungsenergie
deutlich wird. Sie wird nicht durch Pedal neutralisiert. Die hohen Trommeloktaven
erhalten dank der geringen Saitenresonanz in der hohen Lage einen perkussiven
Charakter, und die Akkordschläge zu Beginn des Übergangsteils
wirken rabiat. Die Stelle klingt insgesamt viel aggressiver als auf modernen
Flügeln. Dank der präziseren melodischen Zeichnung des Hammerflügels
ist auch der Pedalgebrauch beim Gesangsthema kein Problem: Melodiestimme
und Figurationen werden von den Resonanzen mehr umhüllt als verunklart.
19. 2. Satz, Ausschnitt ab 2.06 bis Reprise
Eine Aufnahme mit Carmen Piazzini. Sie vermittelt weniger zwischen den Extremen, als daß sie die beiden Ausdruckswelten schockhaft nebeneinanderstellt und damit deren Inkommensurabilität unterstreicht. Das Kunststück gelingt ihr wirklich, die fast schizophrene Spaltung zwischen höchster Erregung und inniger Versunkenheit konsequent und sozusagen ungerührt durchzuhalten, ein Kunststück, das vom Interpreten einiges an Nerven und Selbstkontrolle verlangt. Wir bleiben gleich noch ein wenig bei der Aufnahme von Carmen Piazzini und hören uns ihre Interpretation des dritten Satzes, des Scherzos, an. 20. 3. Satz ganz
Daß in der Sonate in A-dur nach dem absolut verzweifelten, zerrissenen langsamen Satz ein so duftiges Scherzo folgen kann, gehört zu den Unbegreiflichkeiten am Phänomen Schubert. Es verweist auf Schuberts Weite des künstlerischen Horizonts und seinen gleichsam spielerischen Umgang mit den großen konzertanten Formen im Spätwerk. Carmen Piazzini spielt dieses Scherzo spritzig, ein wenig erdverbunden und mit viel rhythmischer Energie. Im Trio mit seinen wie aus der Ferne herüberklingenden Terzen findet sie den Ton romantischer Sehnsucht, ohne in ihn expressiv zu überladen. Und wie spielt Wilhelm Kempff, oft als Poet des Klaviers gerühmt, Schuberts Scherzo? 21. 3. Satz, Anfang
Mir scheint, Wilhelm Kempff hat mit diesem Scherzo seine liebe Mühe, bei aller klanglichen Delikatesse, die sein Spiel auszeichnet. Was beim langsamen Satz einen unverwechselbaren Aspekt in seine Interpretation brachte, das rhythmische Ebenmaß, funktioniert hier nicht. Die hingeworfenen Akkorde haben in ihrer Regelmäßigkeit etwas Tickendes, das den Charakter des Stücks verfehlt, zumal das Tempo doch etwas gebremst wirkt. Es ist hier wahrscheinlich ähnlich wie mit dem Dreivierteltakt im Wiener Walzer: Es braucht einen gewissen rhythmischen Schlendrian, um den Grundrhythmus richtig zu treffen - eine kaum wahrnehmbare Asymmetrie, die die Regelmäßigkeit des Eins-Zwei-Drei aufhebt. Für den Walzer wäre ein preußisch-exaktes Durchzählen des Dreiertaktes tödlich. In Schuberts Scherzo resultieren diese minimalen Abweichungen ebenso wie die Akzente auf dem obersten Akkord aus der Bewegung der über die Tasten hüpfenden Hand; der Interpret muß ihr nur nachgeben. Bei Murray Perahia sind diese Unwägbarkeiten verhanden und verleihen seinem Spiel Lebendigkeit. 22. 3. Satz Anfang
Murray Perahia mit dem Anfang des Scherzos. In der Aufnahme von Melvyn Tan gibt es im Trio dieses Satzes etwas zu hören, was nur mit dem Hammerklavier möglich ist: Die klangverfremdende Wirkung der Dämpfung. Während auf dem modernen Flügel durch die Verschiebung der Klang nur gering verändert und ansonsten einfach reduziert wird, bringt die Dämpfung beim Hammerflügel ein neues Klangregister zum Vorschein. Darin zeigt sich ein Rest der alten Cembalotechnik. Es ist ein interessanter Effekt, und Melvyn Tan setzt ihn hier auf sinnvolle Weise ein. Doch mit den Klangmöglichkeiten des modernen Flügels im Ohr fällt einem daran doch in erster Linie das Handwerklich-Gemachte auf, das Klappern des alten Tastenwerkzeugs. Der Charakter der Entrückung, der beim modernen Flügel so verzaubernd wirken kann, will sich auf dem Hammerklavier nicht so recht einstellen. 23. 3. Satz, Trio, 2.23-3.42
Die heftigen Akzente im zweiten Teil sind übrigens durch Schuberts Notation vollkommen gedeckt; auf dem Hammerflügel erscheinen sie aber härter als wir es gewohnt sind. Bei diesen Akzenten halten sich ohnehin viele Pianisten zurück; sie möchten die entrückte Stimmung nicht allzusehr stören. Doch Schuberts Sforzati - einmal sogar ein Sforzatissimo - verlangen diese Störung. Zu den wenigen, die das ernst nehmen gehört András Schiff. Er spielt diese Passage mit wuchtigen Akzenten, wie ein trotziges Aufbegehren. 24. 3. Satz, Trio, 2.31-3.52
András Schiff mit dem Trio aus dem dritten Satz der Sonate in A-dur D: 959 von Franz Schubert. 25. 4. Satz Anfang bis Mitte des SS
Wir hörten bereits zu Beginn dieser Sendung mit András Schiff einen längeren Ausschnitt aus dem vierten Satz, und nun erklang dessen Anfang in der Interpretation von Murray Perahia. Perahia erweist sich hier als vorzüglicher Schubert-Interpret. Schiff malt mehr mit weichen Farben, Perahia legt mehr Wert auf Zeichnung, die er indes auch vielfältig zu färben weiß. Die liedhafte Melodie bringt er zum Blühen, die sprudelnde Triolenbegleitung umspielt sie in immer neuen Schattierungen. Beim Eintritt des Seitenthemas wechselt er die Begleitung in ein Nonlegato, das der Melodie eine jugendliche Frische verleiht. Eine Charakterisierungskunst, wie sie so deutlich nur noch von Eduard Erdmann praktiziert wird. Hier Erdmann mit dem Übergang zum 2. Thema. 26. 4. Satz Ausschnitt, 1.17 - 3.25
Wieder verblüfft das zügige Tempo, das Eduard Erdmann hier vorlegt, und man ist erstaunt, wie wenig seine Spielweise dem Schubert-Cliché von Gemütlichkeit und Gefühlsduselei entspricht. Er durchwandert die weite Landschaft dieses zweiten Themas mit frischer Neugierde und verweilt nicht übermäßig lange bei den schönen Stellen, denn er weiß: es kommen noch viele andere. Man hat den Eindruck, an seiner Seite fließe das Bächlein aus der Schönen Müllerin. Das sind die Stellen, an denen sich zeigt, ob einem Interpreten etwas einfällt zu Schuberts Musik: Die langen, nicht zielgerichteten Entwicklungen eines Themas, das immer wieder von einer Tonart in die andere verschoben wird, wobei seine Ausdruckswerte wechseln wie die Beleuchtung einer Landschaft unter rasch wechselnder Bewölkung. Unter den Händen eines einfallsreichen Spielers kommt in diesen gefürchteten Längen in keinem Moment der Eindruck von Langeweile auf. Es kann in der Form wie hier bei Erdmann oder bei Perahia geschehen, oder in einer mehr nachdenklich-staunenden Weise wie bei András Schiff. Es gibt viele Möglichkeiten. Tödlich für Schuberts Musik sind nur gleichförmiges Herunterspielen oder krampfhaftes Interessantmachen. Auch dieses über weite Strecken so munter vor sich hinfließende Sonatensatz-Rondo enthält freilich nochmals eine dramatische Zuspitzung in der Durchführung. Der chaotische Ausbruch aus dem langsamen Satz findet hier einen späten, jedoch konstruktiv gebändigten Nachhall. Ein Wilhelm Kempff kann hier ganz aus seiner Beethoven-Erfahrung schöpfen, wenn er die Architektur dieser konflikthaften Passage planmäßig aufbaut. Ich möchte aber an den Schluß die Aufnahme mit Murray Perahia setzen. Zusammen mit Schiff, wenn auch in anderer Weise als dieser, gehört Perahia zu den Pianisten, die meiner Meinung nach bei der A-dur-Sonate besonders überzeugen. Und mit seinem unspektakulären, aber reich differenzierten Spiel trifft er Schuberts Ton von allen heutigen vielleicht am besten. 27. 4. Satz ab Mittelteil (4.03'') bis Schluß
© 1999 by Max Nyffeler
Bayerischer Rundfunk, Sendung vom 29. 5. 1999 Zurück zu Themen |