Wer spricht? Isabel Mundry und Heiner Goebbels über Konstellationen des Ich

Erstes Gespräch mit Max Nyffeler

Max Nyffeler Ich möchte Sie zuerst mit einem Zitat konfrontieren. Es heisst darin, dass «wir den subjektiven Künstler nur als schlechten Künstler kennen und in jeder Art und Höhe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung des Subjektiven, Erlösung vom "Ich" und Stillschweigen jedes individuellen Willens und Gelüstens fordern, ja ohne Objektivität, ohne reines interesseloses Anschauen nie an die geringste wahrhaft künstlerische Erzeugung glauben können.» Was ist Ihre Meinung dazu?

Heiner Goebbels Von wem ist das?

Max Nyffeler Vom jungen Nietzsche, Geburt der Tragödie.

Heiner Goebbels Vielleicht ist Kafka – der mir näher liegt – gar nicht so weit entfernt, wenn er sinngemäß sagt, sein Eintritt in die Literatur habe erst da begonnen, wo er aufhörte, «ich» zu sagen. Was aber nicht heisst – und deswegen hilft mir diese etwas polemische Äusserung von Nietzsche wenig –, dass sich das Ich nicht auch in der dritten Person, durch eine Verschiebung, artikulieren kann. Das passiert jedem Künstler. Die Frage ist eher, ob ich dem Glauben verfallen bin, mich sozusagen ungebremst realisieren zu können, oder – was ich interessanter finde – ob ich zunächst einmal allen meinen Inspirationen, meiner Biografie und der musikalischen Sprache, in der ich mich bewege, misstraue und versuche, in einer Vielstimmigkeit aufzugehen – die möglicherweise auch schon durch die Arbeitsweise provoziert wird.

Max Nyffeler Ich darf vielleicht noch ergänzen: Für Nietzsche ist der dionysische Künstler – um den geht es hier – ganz mit dem «Ur-Einen» eins geworden; wenn er dann «Ich» sage in seinem Kunstwerk, spreche nicht sein empirisches Ich, sondern dasjenige, das auf den «Seinsgrund» hinabgeblickt habe. Es gibt bei Nietzsche also diesen ontologischen Aspekt der Kunst.

Das Ich und das Andere

Isabel Mundry Auf diesen zweiten Punkt möchte ich jetzt nicht eingehen. Die erste Aussage stimmt genau so wie sie nicht stimmt. Die Frage ist, um welches Ich es überhaupt geht. Ich finde den Vorgang des Schreibens nur dann interessant und lohnenswert, wenn ich diejenige, die sich im Stück entfaltet, nicht kenne. Dieses Nichtkennen kann unterschiedlich gestaltet werden. Zum Beispiel kann man alles nur hinter einer fremden Abstraktion verstecken, was aber wahrscheinlich wenig interessant wäre. Ich gehe nicht davon aus, mich zu kennen, doch ich versuche das auf eine so spezifische Weise, dass dabei wieder etwas Subjektives herauskommt.

Heiner Goebbels Wahrscheinlich wäre diese «fremde Abstraktion» zunächst für mich nicht abschreckend. Das Material zum Beispiel kann so eine «fremde Abstraktion» sein; eine sehr präsente, ausdrucksreiche - mit der ich aber nicht identisch sein muss. Manchmal habe ich bei meinen Arbeiten den Eindruck: Das ist überhaupt nicht meine Musik. Trotzdem distanziere ich mich von ihr nicht, weil ich aus einem bestimmten Kontext, in dem diese Arbeit steht, oder aus dem Zusammenstoss verschiedener Identitäten gerade den Funken schlagen kann, der mich persönlich interessiert und den ich auch weitergeben möchte.

Isabel Mundry Das scheint mir bei Ihnen aber weniger eine Frage der Abstraktion zu sein als eine des Dialogs. Sie arbeiten ganz gezielt mit der Individualität des oder der andern.

Heiner Goebbels Auch mit der Verdinglichung. Das wäre dann so eine Art «fremde Abstraktion». Zum Beispiel war mir die Speed-Metal-Gruppe Megalomaniax, mit der ich an der Wolokolamsker Chaussee gearbeitet habe, sehr fremd. Da gibt es im Grunde nichts Persönliches, Eigenes – selbst nicht bei den Musikern, die diese Musik spielen; sie selbst machen keinen Hehl daraus, dass sie Klischees nachspielen; im Gegenteil: sie tun das mit Lust. Das ist also bestimmt nichts Individuelles, sondern eher ein abstrakter Topos, den ich benutze, um durch ihn zu sprechen. Aber in dieser Ansprache, wie auch immer die gestaltet ist, stecke ich dann wahrscheinlich nolens volens mit drin.

Max Nyffeler Ich habe den Eindruck, Sie, Heiner Goebbels, haben dieses Fremde nun eher im Material situiert, während es für Sie, Isabel Mundry, eine Art fremdes Ich ist – ein Ich in Ihnen selbst, nach dem Sie suchen und mit dem Sie in Dialog treten wollen.

Isabel Mundry Ja richtig. Ich könnte es auch anders sagen: Vor jedem Stück gibt es bei mir einen ganz bestimmten Affekt. Dann beginne ich diesen Affekt – oder diese Idee oder Imagination – von so verschiedenen Seiten anzugehen, dass er für mich selbst wieder zum Objekt wird. Das ist ein zwangläufiger Prozess.

Heiner Goebbels Man versucht Abstand herzustellen.

Isabel Mundry Daran kommt man gar nicht vorbei. Ein Einfall hat ja zunächst etwas vollkommen Ungefiltertes, das weiss jeder, und wenn man sich dann vors Papier setzt und versucht, irgend etwas davon einzufangen, wird er einem erst einmal fremd. Diesen Zustand des Fremdmachens finde ich aber äusserst anregend und notwendig, weil dadurch ein Dialog erzeugt wird. Den Dialog führe ich natürlich nicht nur mit mir, sondern auch mit den Gegebenheiten der Instrumente, des Raumes oder der Notation. Was mich aber auch zunehmend interessiert, sind Projekte in Zusammenarbeit mit einer anderen Person, einem Komponisten, einem bildenden Künstler usw. Dann mache ich etwas, bekomme es in geänderter Form zurück, gebe es wieder zurück usw.

Heiner Goebbels Wird für Sie dieser Abstand kurzgeschlossen, wenn das Resultat zu hören ist? Haben Sie dann den Eindruck: Das bin ich jetzt wieder?

Isabel Mundry Das ist unterschiedlich. Ich bin natürlich extrem neugierig, etwas über mein Hören zu erfahren in dem Moment, in dem ich das Stück wirklich höre. Es ist das innere Hören, dem man dann gegenübersitzt. Und ich muss ehrlich sagen: Obwohl ich sehr mit Strukturen beschäftigt bin, sind sie mir im Moment des ersten Hörens vollkommen egal. Dann kommen andere Qualitäten ins Spiel, zum Beispiel auch körperliche.

Heiner Goebbels Die einen dann auch verblüffen und überraschen können...

Isabel Mundry ... ja, und mir manchmal fast Angst machen. Letztlich geht es mir um etwas, das in der sinnlichen Erfahrung des Konzerts nicht mehr mit der Technik der Notation oder durch Sprache abzudecken ist. Es gibt für mich nichts Unangenehmeres, als ein Stück zu hören, bei dem man innerlich fast mitschreiben kann, was der Komponist beim Schreiben gedacht hat. Wenn es aus dem Medium der Sprache im weitesten Sinn nicht herauskommt. Mich interessiert mehr, was er beim Schreiben wohl gehört hat, und wie sich der Höreindruck als nicht übersetzbare Qualität vermittelt.

Wessen Handschrift?

Max Nyffeler Ich möchte nochmals auf die Ausgangsfrage nach dem Ich zurückkommen, das spricht bzw. schreibt. Heiner Goebbels, in Ihrem Musiktheaterstück «Schwarz auf Weiss» taucht an zentraler Stelle die Frage auf: «Qui parle?» – «Wer spricht?»

Heiner Goebbels Ein Zitat von Maurice Blanchot.

Max Nyffeler In Ihrem Aufsatz Schreibfiguren: Schwarz auf Weiss greifen Sie diese Frage nach dem schreibenden Ich dann wieder auf. Sie stellen fest, sie vermissten bei vielen Kollegen die bewusste Loslösung von einem ungebrochen erscheinenden Identitätsbegriff und stellen mit Blanchot und Heiner Müller die Frage: Wer führt die Hand, die da schreibt?

Heiner Goebbels Manchmal merkt man mit einem gewissen Schrecken, wie in der eigenen Hand, ob sie nun spielt, malt oder schreibt, sich Mechanismen zeigen, derer das künstlerische Subjekt nicht wirklich Herr ist; man wird sich der angesammelten Klischees bewusst – dessen, was an Biografischem da mitschreibt. Das Terrain der Erfindung und der identischen Arbeit halte ich generell für vermint. Mich interessiert, Abstand zu schaffen zu diesen Minen und zu den Überlieferungen, in denen man steckt, und da bin ich von dem, was Isabel Mundry gesagt hat, wahrscheinlich nicht weit entfernt. Es stellt sich aber die Frage: Wie vermittelt man den Hörern diesen Abstand zum eigenen Tun? Wie kann man durch die Überlieferungen und mit Ihnen sprechen? Vielleicht habe ich das gemeint, wenn ich mich gegen eine bestimmte Art von Ausdrucksglauben, von obsessivem Schreiben in der ersten Person, gewendet habe, aus dem vielleicht die anfängliche eigene Skepsis getilgt ist. Wenn ich ein solches Stück höre, folge ich dieser Person auf Schritt und Tritt und stelle dann fest: Die Person interessiert mich oder sie interessiert mich nicht. Doch es gibt in der Kunst auch eine Alternative dazu: Der Künstler bietet mir eine Form an, mit der ich mich selbst auseinandersetzen muss. Eine Form, deren subjektive Bewältigung noch nicht in der Komposition gelöst ist. Von der Vermittlung her interessiert mich dieser zweite Vorgang mehr.

Isabel Mundry Ich bin nicht daran interessiert, das Ich zu kanonisieren. Es gibt diesen Topos der Handschrift oder der persönlichen Sprache, der besagt, die Musik des Komponisten A klinge so, die des Komponisten B so. Das ist ein Denken in Markenzeichen, dafür brauche ich nicht zu komponieren. Aber bei aller Verschiedenheit der Stücke, die ich im Laufe der Zeit schreibe, geht durch sie wohl doch eine Art Faden hindurch, der die Stücke in ein besonderes Verhältnis zueinander setzt. Was dieser Faden ist, kann man vermutlich erst feststellen, wenn ich das letzte Stück geschrieben habe. In diesem Punkt beginnt für mich die Frage nach dem Ich interessant zu werden.

Max Nyffeler Bei Blanchot heisst es, die schreibende Hand sei eine Schattenhand. Das könnte man einerseits ideologiekritisch verstehen: dass im Hintergrund eine Konvention steht, vor der man sich hüten muss. Man könnte es aber auch mehr im Sinne Nietzsches, vielleicht ohne metaphysisches Pathos, verstehen: als eine geistige Kraft – ein kollektives Unbewusstes oder was auch immer –, die einen zum Schreiben anhält und die mit Klischee nichts zu tun hat.

Ich und kollektive Erfahrung

Heiner Goebbels Es ist zunächst nicht in erster Linie die Konvention, die schreibt. Es ist die Erfahrung – auch eine gesellschaftliche. Ich versuche das zum Beispiel bei solistischen Partien zu reflektieren, indem ich eine individuelle Aktion zum Unisono multipliziere. Damit wird ein zunächst sehr persönlicher Gedanke vergesellschaftet. Wenn sich ein Instrumentalist in seiner individuellen Körperlichkeit ungestört ausleben kann, kann das etwas Wunderbares sein, doch es interessiert mich nicht sonderlich. Eine solche Interpretation schliesst mich aus; sie lässt mich nicht Anteil haben, weil sie die Form nicht mitkommuniziert. Wenn ich als Komponist nun Soli durch Unisono-Spiel multipliziere, entsteht eine besondere Art von Kommunikation unter den Musikern. Und indem ich nun diese Kommunikation quasi inszeniere, versuche ich das Publikum daran Anteil haben zu lassen. In Eislermaterial sind zum Beispiel Musiker, die eng miteinander spielen müssen, weit auseinander platziert; Geige, Bratsche und Cello sitzen an entgegengesetzten Punkten der Bühne. Die Anstrengung, die dadurch erforderlich ist, um die Intimität einer leisen Streicherpassage herzustellen, teilt sich auf diese Weise dem Publikum mit. Die Anstrengung und Intensität des individuellen Ausdrucks interessieren mich; aber nicht, wenn sie sich selbst genügt, sondern wenn sie auf eine offene Weise kommuniziert werden muss und kann.

Max Nyffeler Die individuelle Aktion wird in eine soziale Dimension transformiert.

Heiner Goebbels Und schliesst damit auch im weitesten Sinn den Hörer mit ein.

Isabel Mundry Was ist das Individuelle, das Ich, in einem Stück? Das Beispiel mit dem Unisono zeigt, dass das Ich allenfalls als Relation, nicht als Realität zu verstehen ist. Das Ich kann also nicht einfach sagen: «Nun spreche ich, das hier ist meine Stimme.» Diese Stimme vermittelt sich nur als meine Stimme, wenn sie in irgend einer Weise mit ihrer Negation konfrontiert wird.

Heiner Goebbels Und in Spannung zu einer Instanz tritt, die ausserhalb von ihr liegt.

Isabel Mundry Das trifft sowohl für werkimmanente Vorgänge als auch für das Künstlerbewusstsein zu. Ich finde, das eine könnte man als Metapher für das andere nehmen. Von beiden liesse sich sagen: Das Ich ist nicht ein Gegebenes, es ist immer eine Relation und gibt sich erst dann überhaupt zu erkennen, wenn die Relation zutiefst in Frage gestellt und thematisiert wird. Das Schreiben von Solostücken bringt Fragen der Relativität des Ich zwangsläufig auf den Punkt. Deshalb habe ich vielleicht die Tendenz, in ein Solostück potenziell ein Orchester hinein zu projizieren, so zu tun, als ob es nicht aus einem einzigen Körper entstünde, sondern aus dreissig. Und umgekehrt, wenn ich ein Orchesterstück schreibe, versuche ich diese siebzig oder mehr Leute als eine gigantische Kammermusik zu denken, in der im Grunde jeder Einzelne Solist ist und ein Gesamtkörper aus der Summe von Einzelereignissen entsteht.

Heiner Goebbels Aber wäre die logische Konsequenz dann nicht das Unisono? Man könnte doch sagen: Das Unisono ist die Vergesellschaftung einer musikalischen Figur. Man muss sich mit den andern abstimmen, gleich atmen, den gleichen Strich beachten usw. Wenn es dann noch gelingt, einen großen Ausdruck zu erzeugen, dann gehört es zum Schönsten, was es gibt. Aber wenn man die Musiker in ihrer Individualität belässt, ihrem eigenen Ausdruck, wenn jeder der vierzehn ersten Geigen seine eigene Stimme spielen kann, ist das ja eigentlich keine Umkehr der solistischen Perspektive.

Isabel Mundry Für mich ist die Unisonostimme die Bestätigung des Einzelnen, das zu spielen, was auch die andern spielen. Das kann unter Umständen spannend sein. Aber mich interessiert mehr, alles in Kammermusik aufzuspalten, so dass der Gesamtkörper vielfältig und auch zerbröselt erscheint und der Beitrag des Einzelnen zum Ganzen als solcher hörbar bleibt.

Das Ich als Schnittpunkt von Einflüssen

Max Nyffeler Ein anderes Klassiker-Zitat. Von Rimbaud gibt es den Ausspruch: «Je est un autre". Das wird gelegentlich als Beginn der Moderne bezeichnet, wo das Ich in Fragmente auseinander bricht und der Autor oder «Schöpfer» seine Autorität verliert. Ist diese Aussage für Sie noch aktuell?

Isabel Mundry Das fragmentarisierte Ich geht noch vom Nichtfragment aus. Fragmentierung ist immer auch eine spezifische Zersplitterung des Körpers und damit Teil eines Ganzen. Meine Vorstellung vom Ich ist eher eine des Ortes, in dem sich ganz verschiedene Linien in einem bestimmten Moment kreuzen. Also eine Relation in sehr verschiedene Richtungen, die in diesem Ich beim Schreiben eine bestimmte Konstellation eingehen. In dieser Schnittmenge treffen sich verschiedene Einflüsse, auch verschiedene Möglichkeiten des wieder Auseinandergehens.

Heiner Goebbels Wenn ich versuchen wollte, meinen Arbeitsprozess zu beschreiben – der dann am spannendsten ist, wenn er sich am unbewusstesten vollzieht –, dann würde ich zu einer ähnlichen Metapher greifen: Es wird ein Netz von Linien errichtet, in dem das, was mich letztlich interessiert, hängen bleibt. Nicht das Subjekt ist fragmentarisiert – man fühlt sich bei all dem ja ganz intakt –, sondern der Subjektbegriff ist ein zusammengesetzter. Dem versuche ich vielleicht dadurch gerecht zu werden, dass meine Werke teilweise mit einer Vielfalt von unterschiedlichen Bildern operieren und ich mein Hauptaugenmerk genau auf das richte, was diese Vielfalt zusammenhält. Doch in der Rezeption meiner Arbeit kann ich immer wieder beobachten, dass die Rezensenten zwar die verschiedenen, in meinen Kompositionen vorkommenden Materialien aufzählen, sich aber kaum Gedanken darüber machen, wie das Ganze funktioniert. Genau das wäre jedoch der entscheidende Punkt. Was passiert eigentlich, wenn sich zwei Ästhetiken, zwei Besetzungen, zwei sehr unterschiedlich gestaltete Teile berühren? Wie können die trotzdem eine gemeinsame Wirkung entfalten? Was mobilisieren wir als Hörer, damit sie aufeinander wirken? Was hören wir eigentlich alles zusammen, obwohl nichts miteinander zu tun hat? Warum hören wir es zusammen? Auf Grund welcher Kriterien geschieht das? Das können ja durchaus konventionelle Kriterien sein, harmonische Konsequenzen, melodische Fortschreibungen oder rhythmische Beziehungen; diese Punkte interessieren mich. Unsere Erfahrungen sind sehr zusammengesetzt, und unsere Wahrnehmungspotenzen – ich sehe das auch bei meinen Kindern – haben sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren explosionsartig entwickelt. Es gibt überhaupt keinen Grund für einen Kulturpessimismus, und deshalb trauere ich auch der Vergangenheit nicht nach. Auf dem CNN-Bildschirm sind neben zwei Bildflächen noch mindestens vier verschiedene Textsorten zu lesen. – Ich betrachte das alles als eine grosse Chance, eine grosse Herausforderung, und es ist für mich ein Genuss, alle diese Dinge zusammenzudenken. Das ist der Grund, warum sich mein Hauptaugenmerk genau auf die Berührungspunkte des Verschiedenen richtet.

Isabel Mundry Diese Polyphonie der Eindrücke suche ich auch. Und doch kann mein Schaffensprozess immer noch so aussehen, dass ich manchmal drei Wochen lang über zwanzig Sekunden nachdenke. Es gibt einen Reduktionsprozess, den ich diesen Polyphonien gegenüber stelle. Ich kann nicht immer alles erfassen und dann sagen: So, jetzt gehe ich nach Hause und schreibe das alles nieder. Das ist ein gnadenloser Filterungsprozess, der sicher etwas mit dem Ich zu tun hat. Damit, dass diese Fülle auch wieder eine Leere erzeugen kann, und dass diese Leere die entscheidende und manchmal schmerzhafte Frage stellt: «Was fängst du nun mit dieser Fülle an?»

Heiner Goebbels Wenn Sie drei Wochen lang über zwanzig Sekunden nachdenken – was der Produzent des letzten Eminem-Albums vermutlich auch gemacht hat, das ist extrem detailgenau gearbeitet –, versuchen Sie dann sozusagen dieser Polyphonie eine Gesamtheit entgegenzusetzen? Ist das der Punkt, der Sie straucheln oder zögern lässt?

Isabel Mundry Nein, es ist eher die Konfrontation mit der Erfahrung, dass die erlebte Polyphonie und die Art, mit ihr umzugehen, zwei grundverschiedene Dinge sind. Ein Beispiel: Vor eine paar Jahren machte ich einmal ein Seminar über Musik, die mir bis dahin grundfremd gewesen war. Da wurde vieles für mich plötzlich reizvoll. Ein Dreivierteljahr hörte ich fast nur Popmusik, und ich fragte mich: Warum hast du dich eigentlich vor zwanzig Jahren für die neue Musik entschieden und nicht für jene andere? Dann überlegte ich: Warum nicht Björk anrufen und fragen: Machen wir was zusammen? Ich habe mir das als Option offen gehalten. Doch dann versuchte ich, diese Faszination erst einmal in meine eigene Musik umzusetzen, ohne mit anderen oder mit Versatzstücken zu arbeiten. Das Verrückte dabei ist: Ich glaube, diese Umsetzung hat stattgefunden, aber die Stücke klingen nicht danach. Das ist natürlich jetzt ein drastisches Beispiel. Aber dieser Prozess findet dauernd irgendwo statt, in der Irritation durch einen fremden Stoff und vielleicht noch mehr im Vorgang seiner Verarbeitung, in dem sich die Kategorien des Fremden und des Eigenen gegenseitig ausloten. Das Ich ist wesentlich komplexer als der affektive Eindruck eines Momentes mit all seiner Faszination.

Fragmentarisierung und Ganzheit

Max Nyffeler Die Aussage mit dem wochenlangen Nachdenken über zwanzig Sekunden Musik möchte ich im Sinne des Rimbaud-Zitats zuspitzen: Vielleicht steckt hinter der künstlerischen Suche immer eine Art Suche nach der verloren gegangenen Einheit?

Heiner Goebbels Da erinnere ich mich an ein Erlebnis, das ich im Zusammenhang mit Schwarz auf Weiss hatte. Auf einer österreichischen Insel...

Isabel Mundry Auf einer österreichischen Insel?

Heiner Goebbels ...genau, im Urlaub, auf einer österreichischen Insel im Attersee, in einem Schloss, bei Kerzenschein, hörte ich die Pianistin Elisabeth Leonskaja mit der postumen Sonate B-Dur von Schubert. Ich kannte die Sonate kaum und war völlig perplex über diesen langen ersten Satz. Wie muss das schön sein, dachte ich, wenn man so einen langen ersten Satz schreiben kann. Dass man diese Spannung aufrecht erhält und alles so schön zusammenbleibt. Diese Sehnsucht nach einem großen Atem hat mich damals bei Schwarz auf Weiss lange beschäftigt und angetrieben und auch zur Verzweiflung gebracht. Herausgekommen sind dann doch - wie immer - wieder nur zwanzig Stücke à drei Minuten. Wie Sie es gerade im Beispiel mit Björk sagten: Das Andere muss erst einmal durch einen hindurch. Aber dann versagen die äusseren Kriterien und man landet doch wieder bei seiner eigenen Motorik. Irgendwie ist es mir dann offenbar doch gelungen, diese zwanzig Stücke à drei Minuten unter einen vergleichsweise grossen Atem oder Bogen zu bringen – zumindest konnte ich das der öffentlichen Wahrnehmung im Nachhinein entnehmen. Schubert hat mich da offensichtlich zu einer Idee von Ganzheit angeregt, auch wenn diese Ganzheit in eine grosse Anzahl von kleinen Teilen aufgelöst wurde und letztlich nur als Puzzle Gestalt annehmen konnte.

Max Nyffeler Heisst das, dass es da einen instinktiven Impuls gibt, aus dem heraus Sie etwas Ganzheitliches anstreben?

Isabel Mundry Ich hätte jetzt einmal ganz spontan gesagt: Ich fliehe die Ganzheit.

Heiner Goebbels Das hätte ich auch gesagt.

Isabel Mundry Die Frage ist, wie man diesen Begriff definiert. Wenn ich jetzt generell nein sagen würde, würden Sie natürlich erwidern: «Aber schauen Sie, dieses Beispiel spricht ja genau davon.» Das ist natürlich eine sehr subtile Angelegenheit, diese Suche nach einer wie auch immer verstandenen Ganzheit. Man kann es auch umgekehrt sagen, und so möchte ich es auch für mich definieren: Ich versuche, Scheinganzheiten zu vermeiden.

Max Nyffeler Wieso Scheinganzheiten?

Isabel Mundry Wie ich schon gesagt habe, bin ich extrem daran interessiert, den Vorgang des Komponierens als einen zeitlichen Vorgang wahrzunehmen, mit all den Implikationen, die das Eingeständnis des Vergänglichen mit sich bringt. Das Stück muss in einem ganz prinzipiellen Sinn etwas offen lassen, weil ich nicht weiss, wo ich ankomme. Wenn ich ein halbes Jahr an einem Stück schreibe, dann interessiert mich, was in diesem halben Jahr mit dem Stück und mit mir passiert, und es interessiert mich, diesen Vorgang als Gedanken in das Stück mit einzubeziehen. Das ist das Nicht-Ganzheitliche, das jedem zeitlichen Vorgang, auch unserem ganzen Leben zugrunde liegt. Wir können die Zeit nicht antizipieren. Deshalb machen mir auch nach Ganzheitlichkeit strebende Formen mit Symmetrien, Reprisen und Ähnlichem potenziell Angst, weil sie das wesentlich Offene, aber auch das wesentlich Vergängliche der Zeitlichkeit negieren

Max Nyffeler Um bei Schubert zu bleiben: Gerade seine Musik vermittelt ganz stark das Gefühl der Endlichkeit. Es bildet ein dialektisches Gleichgewicht mit etwas bleibend Schönem. In der Schönheit, die er schafft, ist die Vergänglichkeit mit Händen zu greifen.

Isabel Mundry Jetzt haben Sie aber einen sehr weit gefassten Ganzheitsbegriff. Ich bin mir sicher, dass Schubert diesen Ganzheitsbegriff nicht als Projekt in Sinn hatte.

Max Nyffeler Wer weiss.

Heiner Goebbels Diese Stopps in der Sonate ...

Isabel Mundry ... ja, diese Löcher! Die sind gerade das Faszinierende.

Heiner Goebbels Aber der Sog, die Sehnsucht bleibt natürlich spürbar. Das hält auch die Löcher zusammen.

Max Nyffeler Hat sich das Ich in diese Löcher zurückgezogen?

Heiner Goebbels Wer weiss.

 

© 2003 Max Nyffeler

Dieses Gespräch wurde im März 2003 in Frankfurt geführt. Print-Veröffentlichung in: Programmbuch des Lucerne Festival 2003

Gespräch II mit Isabel Mundry und Heiner Goebbels
Dossier Heiner Goebbels
Dossier Isabel Mundry
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